Im Kino: "Die Träumer":Operation an offenen Herzen

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Ein verrückter Film, ein grotesker. Und einer, den man liebkosen muss. Bertolucci legt sein neues Meisterstück vor, in dem die Jugend von '68 gefeiert wird, weil sie nicht altern will.

FRITZ GÖTTLER

Wirklich verrückt ist dieser Film, völlig grotesk. Eine Freakshow, aus dem sagenhaften Jahr 1968 - dem hier ein deftiges Aroma der Verruchtheit verpasst wird, das die glaubensstarken 68-er das Gruseln lehren mag.

Mit neugierigen Blicke am Morgen, durch den Hinterhof, über den Frühstückstisch, fängt es an ... (Foto: Foto: Concorde)

Es ist ein Vor- und Marginalspiel zur großen Barrikaden-Show, ein Nebenschauplatz, prima della rivoluzione. Bertolucci selbst hat die Action damals nicht miterlebt, er war in Rom und drehte seinen Film "Partner", aber sein Hauptdarsteller, Pierre Clementi, fuhr jedes Wochenende nach Paris zurück und lieferte montags erregende Berichte von dem, was er dort erlebt hatte.

Die Revolution beginnt hier mit dem Streit um die Cinémathèque. Ihr Direktor, der legendäre Henri Langlois - er hatte seinerzeit auch den "Prima della rivoluzione"-Regisseur Bertolucci protegiert -, ist vom Kulturminister gefeuert worden, der Betrieb ist stillgelegt. Die Pariser Cinephilen protestieren, die Zauberlehrlinge, unter Leitung von Jean-Pierre Léaud, dem Helden der Nouvelle Vague.

In der Protestversammlung vor dem vergitterten Tor der Cinémathèque treffen drei junge Kinosüchtige aufeinander, die Zwillinge Théo und Isabelle, und der Amerikaner Matthew (Michael Pitt). Es ist eine Begegnung, wie sie nur noch in den Sechzigern möglich schien, zwischen Dekadenz und Natürlichkeit, dem Rohen und dem Ausgekochten. Die Zwillinge (Eva Green, Louis Garrel) haben schmale blasse Gesichter unter schwarzem Haar, dem pausbäckigen Matthew hängen blonde Strähnen in die Stirn - Bertolucci filmt den Naturburschen in einer Mischung aus Leonardo (DiCaprio) und Caravaggio.

Phantastisch, wie Bertolucci wieder einmal Akteure aufgespürt hat, die sofort eine erotische Beziehung mit der Kamera eingehen. Wie die Kids anfangs die Straßen von Paris durchstreifen und als ihr natürliches Terrain reklamieren, das filmt Bertolucci mit einer Grazie, die einmalig ist im Kino. Man weiß nach diesen Bildern, was da verloren geht, wenn die Straßen sich in eine Kampfzone verwandelt haben. Noch einmal wollen die drei es wissen, ziehen los, um den Rekordlauf durch den Louvre zu unterbieten, den die "Außenseiterbande" in Godards gleichnamigem Film absolviert hatte.

Eine Vampirgeschichte, die Geschwister locken Matthew in die Wohnung an der Place de l'Odéon, wo er mit den Eltern diskutieren darf - der Vater ist ein großer Poet -, dann räumen die Eltern das Feld, fahren in die Ferien. Die schrecklichen Kinder beginnen ihre Spiele. Mit neugierigen Blicke am Morgen, durch den Hinterhof, über den Frühstückstisch, fängt es an, dann machen sie berühmte Filmszenen nach und betreiben Onanie vor den Bildern ihrer Stars, schließlich kommt es zu erotischen Exzessen, zu Entjungferung, einem Dreier in der Badewanne. Durchs Fenster dringt der Lärm der Straßenschlachten.

Der Film entstand nach einem Buch von Gilbert Adair, Romancier und Cineast aus London, er ging 1968 nach Paris und ist viele Jahre nicht mehr losgekommen von der Stadt. "Die heiligen Unschuldigen" hat er die erste Version genannt, aber er war dankbar dass er das Buch für Bertoluccis Film überarbeiten durfte - überschreiben, besser gesagt, als ein Palimpsest (deutsche Ausgabe Edition Epoca)

Die Cinephilie ist eine aristokratische Passion - das können auch nur die Franzosen, spottet Matthew über die Cinémathèque, ein Kino in ein Schloss stecken. In einer der ersten Filmbeschwörungen der Kids taucht Garbo auf als Königin Christine - wie sie die Wände des Zimmers mit Händen abfährt, um die Erinnerungen an die Liebesnacht zu speichern, die sie darin mit John Gilbert verbracht hat. Es ist die gleiche Taktilität, die auch Bertoluccis Kino bestimmt, von "Prima della rivoluzione" über den "Letzten Tango in Paris" bis zum Buddha-Film "Ich bin sicher nicht der einzige", sagt Gilbert Adair, "der oft das Verlangen verspürte, seine Filme zu betasten, zu liebkosen, wie man Fleisch liebkost." Bertoluccis Kamera nimmt alle möglichen Verzerrungen in Kauf, um die Distanz zu verkürzen zu ihren Objekten, um hautnah an die Menschen heranzukommen. Eine Frage der Ästhetik, aber auch eine Frage der Politik: "Bevor man die Welt verändern kann, muss man verstehen, dass man ein Teil davon ist. Man kann nicht draußen bleiben und hineingucken." Das gilt auch für die größte Distanz, die der Film zu überwinden hat, die zwischen dem Alter und der Jugend. Ums "Nicht erwachsen werden wollen" geht es stets bei Bertolucci, und irgendwie auch in den Botschaften der 68-er.

Die Wohnung der Kids wird zur geschlossenen Anstalt - der letzte Film, den sie in der Cinémathèque sehen, ist Fullers grimmiger "Shock Corridor". Schon dort konnte man sehen, welche Risiken für die Psyche der Rückzug aus der Wirklichkeit in sich barg. Die verschlungenen Korridore und mit Plakaten und Fotos zugekleisterten Zimmer filmt Bertolucci wie ein verwunschenes Schloss, mit Erinnerungen an die "Enfants terribles" von Cocteau/Melville und Buñuels "Würgeengel". Intrigante Paare, die mit ihren gefährlichen Liebschaften anderen die Unschuld rauben, haben Tradition in der französischen Literatur. Aber mit seinem moralbedingten Unschuldsbegriff hat das Bürgertum den Sex diskreditiert. Bertolucci zeigt, dass die reinste Lust immer auch mit Lüsternheit zu tun hat, aber dass die Reinheit sowieso eine Chimäre ist. Und dass man die Liebe als Inszenierung verstehen muss. "Der Film ist in Wirklichkeit der Träumer" sagt er, "der Film träumt den Träumer." Fazit am Ende: Non, je ne regrette rien . . .

"Petitionen sind Poesie", sagt Theos Vater, um seine Position zu bestimmen. "Und ein Gedicht ist eine Petition." Das war die brennende Frage damals, die Rolle der Intellektuellen in der Revolution, das Verhältnis von Theorie und Praxis, diskutiert von Louis Althusser. Der Film lässt noch einmal ahnen, wie schwer das gewesen ist, eine Linie in der Geschichte zu finden. "Es existiert nur die Geschichte des Wirklichen", schrieb Althusser, "die taub im Schläfer unzusammenhängende Träume aufkommen lassen kann, ohne dass diese Träume, verankert allein in der Kontinuität dieser Tiefe, jemals wirklich den Kontinent einer Geschichte bilden könnten." Die Accessoires von Bertoluccis Träumern sind geklaut, von der roten Baskenmütze bis zum Brautschleier, in den Mouchette sich wickelt, wenn sie sich, in Bressons Film, in den Tümpel rollen lässt.

THE DREAMERS, I 2003 - Regie: Bernardo Bertolucci. Buch: Gilbert Adair, nach seinem Roman. Kamera: Fabio Cianchetti. Schnitt: Jacopo Quadri. Mit: Michael Pitt, Louis Garrel, Eva Green, Robin Renucci, Anna Chancellor,Jean-Pierre Léaud. Concorde, 114 Minuten.

© SZ v. 21.01.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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