Im Kino: "Die Klasse":Hausaufgabe: Denken!

Lesezeit: 3 min

Testosterongeschüttelte Jugendliche aus Problemvierteln und wüst schimpfende tätowierte Kapuzenträger: "Die Klasse" zeigt die französische Schule als lebendige pädagogische Notfallambulanz.

Alex Rühle

Die Schule gilt in Frankreich noch immer als heilige Institution, als säkulares Fundament, auf dem die Grande Nation ruht, als der Ort, an dem aus einer buntscheckigen Schar von Kindern mündige Franzosen werden. Dass 2002 der kleine Dokumentarfilm "Être et Avoir" über eine Dorfschule in der Auvergne so erfolgreich war, hing auch damit zusammen, dass da ein Lehrer in einem winzigen Weiler tatsächlich noch diese Utopie vorlebte: Der sanfte Grundschulpädagoge, der da durch ein Schuljahr begleitet wurde, verkörperte in seinem hartnäckigen Humanismus das Ideal der alten republikanischen Schule, eingebettet in die wechselnden Jahreszeiten und eine wunderschöne französische Landschaft.

War selbst mal Lehrer: Schauspieler und Autor der Romavorlage François Bégaudeau. (Foto: Foto: Filmverleih)

In Laurent Cantets neuem Film "Die Klasse" muss nun ein Lehrer ein Jahr lang klarkommen mit testosterongeschüttelten Jugendlichen aus einem Pariser Problemviertel, mit tätowierten Kapuzenträgern, die ihn wüst beschimpfen, mit Halbwaisen, die teils kaum lesen oder einen einfachen Satz bilden können, und die ihm einmal auf die Frage, ob sie denn keine Franzosen seien, antworten: "Nein. Ich bin schon irgendwie Französin, aber ich bin nicht stolz darauf."

Gerade das aber macht "Die Klasse", mit der Cantet in Cannes die Goldene Palme gewann, zu solch einem hervorragenden Film. Schließlich gibt mittlerweile selbst der Erziehungsminister Xavier Darcos zu, dass die Schule in Zeiten zerfallender Familien, interkultureller Probleme und großer Armut als kulturelle Integrationsmaschine überfordert ist und eher einer pädagogischen Notfallambulanz gleicht.

So sagt denn auch in einer der ersten Szenen, am Schuljahresbeginn, einer der Lehrer bei der Vorstellungsrunde zu den neuen Kollegen: "Hallo, ich unterrichte hier das Einmaleins - und nebenbei bin ich Mathematiklehrer."

Der Mann weiß, wovon er spricht, er unterrichtet im wahren Leben, genau wie all die anderen Lehrer, die in dem Film mitspielen, an der Françoise-Dolto-Schule, im betongrauen 20. Arrondissement von Paris. Auch die Schüler kommen von dieser Schule, ja es spielen sogar deren leibliche Eltern mit, ohne dass man auch nur einmal das Gefühl hätte, peinlichem Laientheater beizuwohnen. Die Hauptfigur des Films, Klassenlehrer François Marin, wird ebenfalls von einem ehemaligen Lehrer gespielt: von François Bégaudeau.

Bégaudeau hat jahrelang an einer schwierigen Schule unterrichtet und nebenher Filmkritiken und Bücher geschrieben. Von ihm stammt die Romanvorlage, er hat am Drehbuch mitgearbeitet - und jetzt spielt er sich auch noch in der Figur des Monsieur Marin selber. Das könnte schnell in narzisstische Selbstbespiegelung ausarten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der siegreiche Dialog eines Französischlehrers 2008 aussehen könnte.

Ähnlich wie im Buch aber ist dieser Lehrer beileibe keine Lichtgestalt. Als Laurent Cantet 2006 nach den Banlieue-Unruhen auf der Suche nach einem Schulstoff war, gefiel ihm "Entre les murs" deshalb so ausgezeichnet, weil darin keine Thesen vertreten werden, sondern einfach stroboskopartig der Alltag eines Lehrers beschrieben wird, die Mühen der Ebene, ganz ohne Klagegesang.

Bégaudeaus Marin will die Kinder provozieren, er geht keinem Streit aus dem Weg, sondern sucht im Gegenteil den Konflikt, um ihnen daran jeweils etwas zu zeigen. Als Souleymane ihn fragt, ob er homosexuell sei, nutzt er diese Frage, um mit ihm über Vorurteile zu streiten, nicht dozierend, nicht als einer, der die Patentantwort von vornherein hätte, sondern im Wettstreit. Da der Film sich auf die besten und frechsten Dialoge aus einem Jahr des Improvisierens konzentriert, fällt der zähe Leerlauf der meisten echten Schulstunden weg, diese Mischung aus Langeweile, Sauerstoffmangel und müdem Trotz.

"Warum machen Sie jetzt mich an?"

"Ich mach an, wen ich will. Bin ich hier der Lehrer oder du?"

"Ich war das nicht, Mann, die geht mir doch am Arsch vorbei."

"Die geht Dir was?"

"Die ist mir scheißegal."

"Schon besser."

So sehen im Jahr 2008 die kleinen Siege eines Französischlehrers aus.

"Die Klasse" ist ein Kammerspiel, im wahrsten Sinne des Wortes: Nie verlässt die Kamera die Räume der Schule, nicht mal durch ein Fenster wird die Außenwelt gezeigt, kein Himmel, keine Pflanzen, keine Straße, und die verwinkelte Betonarchitektur mit einem engen Pausenhof zwischen hohen Mauern lässt einen schnell an ein Gefängnis denken: Im Original heißt der Film, ebenso wie François Bégaudeaus Romanvorlage "Entre les Murs", also "Zwischen den Mauern".

Wenn die Sprache das Haus des Menschen ist, dann leben die meisten dieser Jugendlichen in windschiefen Hütten. Wie aber soll man, um im Bild zu bleiben, eine gemeinsame Hausordnung finden, wenn die Kinder nicht mal Wörter wie Österreich kennen? Und wie kann umgekehrt die Schule allen ein Haus sein, wenn am dramatischen Ende gerade der Schüler, der sie am dringendsten bräuchte, rausfliegt, wenn also die vermeintliche Integrationsmaschine am Ende immer auf Exklusion beruht?

Das Gute ist, dass "Die Klasse" einem diese Fragen nicht beantwortet, sondern als vertrackte Hausaufgabe mit nach Hause gibt.

ENTRE LES MURS, F 2008 - Regie: Laurent Cantet. Drehbuch: François Bégaudeau, Laurent Cantet, Robin Campillo. Mit François Bégaudeau, Franck Keïta, Julie Athenol, Jean-Michel Simonet, Esméralda Ouertani. Concorde, 130 Min.

© SZ vom 15.1.2009/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: