Im Gespräch: Christian Petzold:Noch einmal zwölf sein

Lesezeit: 5 min

Der Regisseur spricht über amerikanische Depressionen in der deutschen Provinz und die Verzögerung der Leidenschaft in seinem Film "Jerichow".

Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler

Christian Petzold bringt alles ganz natürlich zusammen, im Kino und im Gespräch, die deutsche Geschichte und das amerikanische Kino, die Politik und die Träume, die sie nicht erfüllen kann.

"Nun gibt es hier keinen Krieg mehr, es gibt Hartz IV. Wo holen die Menschen jetzt ihre Träume her, gehen sie in die Baumärkte?": Regisseur Christian Petzold. (Foto: Foto: dpa)

SZ: "Jerichow" ist erneut ein Film, dem man die Freiheit und Souveränität seines Regisseurs ansieht . . .

Petzold: Dabei haben sich hierzulande ein paar Dinge wieder verfestigt, von denen ich dachte, die hätten sich schon erledigt - wir hätten den Kampf gewonnen. In Kritiken gibt es plötzlich wieder Sätze wie: Er schenkt uns Bilder. Er schenkt uns großartige Bilder. Da steckt so ein komisches 19. Jahrhundert-Künstler-Modell dahinter, dass da ein paar Genies herumlaufen, in deren Köpfen unfassbares Bildmaterial arbeitet, und das Kino ist nur dazu da, dieses Bildmaterial hinauszuprojizieren. Dass das Kino eine Industrie, ein Kollektiv, eine kollektive Leistung ist, dass dies auch das Großartige am Kino ist, das wird dadurch weggeblasen . . . Also, ich würde zum Beispiel nie bei einem Friedkin-Film wie "French Connection" auf die Idee kommen, er schenkt uns Bilder. Sondern ich sehe, da ist eine Arbeit, da ist die Stadt, da sind Schauspieler, Gene Hackman, die haben selber ein Bild von der Stadt . Da ist eine kollektive Intelligenz in dem Film.

SZ: Aber einer setzt das doch in Bewegung, eine Idee, ein konkretes Ereignis.

Petzold: Bei einer Veranstaltung vor einigen Wochen in München habe ich mich mit Marcus Rosenmüller unterhalten. Es ging darum, warum Filme aus Berlin und Filme aus München sich so unterscheiden. Ich meinte, dass das - unabhängig von Reichtum, HFF, Bavaria, Kirch, all den ökonomischen Sachen - damit zu tun hat, dass München ein Umland hat, wo Eltern leben. Es gibt dadurch auch eine Erdung in Familiengenealogien. "Ich fahre am Wochenende raus zu meinen Eltern" - diesen Satz würde man in Berlin nie hören, weil es keine Eltern gibt. Man zog in den Achtzigern nach Berlin, in die Mauerstadt, weil das so weit weg war von den Eltern wie es nur ging. Es gibt also da auch keine Verwurzelung in einem Alltagsleben, in einer familiären Geschichte. Darüber redeten wir, und dann erzählte ich ihm, dass diese Pressemeldung zum Ursprung von "Jerichow", vom Vietnamesen, der einen Achsenbruch hatte, gar nicht stimmte.

SZ: Aber wer erfindet denn so was?

Petzold: Das kommt aus einem Film von Manfred Stelzer, "Monarch", von 1980, von einem, der durch die Bundesrepublik fährt und diese Rotamint-Spielautomaten leer räumt - er wusste genau, wann er die Stopptaste drücken musste. Das ganze schwere Münzgeld, all die Markstücke, hatte er im Kofferraum, und da ist ihm die Achse seines Mercedes gebrochen. Das war einer, der hatte kein Heim, und er träumte davon, sich eine Frau zu kaufen. Weil er kein eigenes Netzwerk hat. So bin ich zu dem Türken in "Jerichow" gekommen. Dieser Film traf damals unsere Weltwahrnehmung. Das gab es damals in der Bundesrepublik noch, diese hässlichen Kneipen am Rande der Fußgängerzonen, mit den Automaten, wo die Leute nach der Schicht oder vor der Schicht ein Bier tranken, das gab es in den Filmen, und das hat sich mir eingeprägt und tauchte zwanzig Jahre später in der Pregnitz wieder auf.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die Figuren nicht nur Getriebene sind.

SZ: Das ist typisch deutsche Provinz, irgendwie aber auch sehr amerikanisch.

Petzold: Bei "Yella" war auch der Schauspieler Hinnerk Schönemann dabei, der aus der Pregnitz stammt, und während der Dreharbeiten kamen wir ins Gespräch, warum das alles dort so amerikanisch aussieht. Diese Autobahnen, die ja noch die Nazis so gerade gebaut hatten, diese grade Weite und die vielen Malls dort - das hat etwas wahnsinnig Amerikanisches. In Brandenburg gibt's viele Städte, die heißen Neu Boston oder Neu Philadelphia. Ich hatte immer gedacht, Heimkehrer hätten diese Städte gebaut. Aber dann erzählte man mir, dass es im 18. Jahrhundert ungeheuere Ausreisewellen aus Preußen gab. Sie haben fluchtartig Europa verlassen, das merkt man heute noch, an dem Hass der Amerikaner auf europäische Politik, vom Iren bis zum polnischen Emigranten - dass sie immer nur missbraucht worden sind. Der alte Fritz hat dann, um diese Welle zu stoppen, den Leuten Land geschenkt, und den kleinen Dörfern und Weilern, die sie geschenkt bekamen, haben die Leute die Namen gegeben von den Kolonien, in die sie wollten. Diese alten Namen erzählen, dass man eigentlich weg wollte. Und da hat sich diese Postman-Geschichte von James M. Cain reingeschmuggelt. Wenn das schon so amerikanisch ausgeträumt ist, dann kann man auch diese Geschichte aus der amerikanischen Depression benutzen, um von dieser Gegend zu erzählen. Das hat sich nicht darübergelegt, sondern ist fast aus der Region hervorgerufen worden.

SZ: Eine durch die Depression geprägte, zerstörte Region . . .

Petzold: Das war die Frage - was bleibt, wenn die Industrie weg ist. Es gibt nur ganz wenige Fabrikbilder im amerikanischen Kino. Wir haben uns auch "Deer Hunter" angeschaut, weil Pennsylvania was mit der Pregnitz zu tun hat. Die Kraft und die Sehnsucht, etwas herzustellen, dann werden die Männer in den Krieg geschickt. Nun gibt es hier keinen Krieg mehr, es gibt Hartz IV. Wo holen die Menschen jetzt ihre Träume her, gehen sie in die Baumärkte?

SZ: Das sind alte Träume, sich ein Nest bauen . . . oder ein Baumhaus.

Petzold: Das zog sich beim Drehen durch, Gedanken, die nie zu Ende gedacht sind, die immer weiter arbeiteten. Obwohl es im Film gar nicht gefilmt wird: Man sieht einen Getränkemarkt, eine Straße, die Einsamkeit eines Hauses an einer Bahnlinie. Aber weil wir so viel darüber geredet haben, glaube ich, dass die Schauspieler das in ihren Zwischenräumen und in ihrer eigenen Körperlichkeit verinnerlicht hatten. Einen Punkt hat Nina sehr gut benennen können. Sie sagte, sie fühlte sich wie eine Elf-, Zwölfjährige. Da wurde mir klar, dass die Kompliziertheit dieser Figuren auch daher kommt, dass sie keine richtige Reifung haben. Sie sind Mitte dreißig und haben ihr Leben in den Sand gesetzt, und nun träumen sie von einer neuen Chance - und zwar dadurch, dass man so tut, als ob man noch einmal siebzehn wäre. Diese Unschuldssehnsucht, diese Regression war nicht im Drehbuch, das hat sich beim Drehen so hergestellt. Ein zweiter Punkt: Ein Jurist erzählte, es gäbe bei ihnen den Ausdruck "retardierter Schmerz" - das ist, wenn man auf dem Oktoberfest ein Messer reingerammt kriegt, aber man ist betrunken und merkt nichts, erst zu Hause sieht man, wie alles voll Blut ist, und man spürt den Schmerz. So ist das auch bei Benno, als er mit Nina Sex hat auf dem Flur, da beißt sie ihm, um sich nicht zu verraten, in die Hand, und erst als er gegangen ist und an der Haltestelle auf den Nachtbus wartet, merkt er das. In dem Moment erst beginnt, retardiert, die Liebe, die Leidenschaft. Es hat zwischen den beiden keine eigentliche Verführung gegeben, plötzlich taucht da etwas auf, sie infizieren sich. Ein klassisches Film-noir-Motiv.

SZ: Und der Film noir war ja nicht nur schwarz und depressiv, sondern hatte auch immer etwas Eruptives, Lustvolles.

Petzold: Es gibt doch diesen Film "D. O. A.", dead on arrival. Ein Typ geht zum Arzt und der sagt ihm, er sei radioaktiv vergiftet, habe nur noch einen Tag zu leben. Der Mann rennt los, durch die ganze Stadt, dann ist er völlig erschöpft, an einem Punkt, an dem er noch nie gewesen ist. Und da beginnt sein Leben, ein komprimiertes Leben - und dieser Lustaspekt hat auch mit Bennos Bisswunde zu tun. Mit der Überraschung, dass sie alle drei nicht nur Getriebene sind, von ihrer Geldgier, ihren Gefühlen, der Ökonomie getrieben, sondern auch endlich das Leben leben, das eine Verdichtung, einen Reiz, auch eine Erotik hat.

© SZ vom 7.1.2009/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: