Illustration:Die Welt steht Knopf

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Winzling Ping Pong, Scheinriese Tur-Tur und Herr Schu Fu Lu Pi Plu: Franz Josef Tripp zeichnete die Bilder zu Michael Endes Jim Knopf. Ein Besuch bei seinem Sohn.

Christian Mayer

Vielleicht war die Geschichte ein wenig zu phantastisch, zu weit entfernt von der Wirklichkeit. Sonst hätte der junge Autor Michael Ende damals nicht so viele Anläufe gebraucht, um einen Abnehmer zu finden. Mehr als zehn Verlagen hatte er sein 500-seitiges Manuskript mit der Geschichte von Jim Knopf und seinem Freund Lukas, dem Lokomotivführer, angedient, und alle kamen zu demselben Schluss: kein Interesse.

Knopf ist Kult: Im August sind es genau 50 Jahre, dass das Buch von Michael Ende und seinem kongenialen Zeichner Franz Josef Tripp in Erstauflage erschien. (Foto: Foto: oh)

Abenteuer zu Wasser und zu Lande

Wer will schon ein so dickes Kinderbuch lesen, noch dazu über zwei so unwahrscheinliche Helden? Ein kleiner schwarzer Junge unbekannter Herkunft und ein Lokomotivführer ohne Schienennetz gehen auf Weltreise; sie erleben die unglaublichsten Abenteuer zu Lande, zu Wasser und in der Luft; sie setzen sämtliche Naturgesetze außer Kraft, sie reisen mit einer höchst lebendigen Maschine namens Emma bis ans Ende der Welt und besiegen korrupte Staatsdiener, schreckliche Drachen und grausame Seeräuber. Der Vollwaise und sein Ziehvater, zwei Pioniere im Reich der Phantasie: Das alles war wohl etwas zu viel für die Vorstellungskraft deutscher Verlagsangestellter Ende der fünfziger Jahre.

Die Lektoren, die damals das Manuskript verwarfen, haben das Geschäft ihres Lebens verpasst. Vier Millionen verkaufte Bände von "Jim Knopf" weltweit, davon drei Millionen allein in Deutschland, Übersetzungen in 33 Sprachen, unzählige Film- und Hörfunkadaptionen, ein reger Handel mit Lizenzprodukten made in Lummerland - Knopf ist Kult. In diesem Jahr darf er sich besonders feiern lassen: Im August sind es genau 50 Jahre, dass das Buch von Michael Ende und seinem kongenialen Zeichner Franz Josef Tripp in Erstauflage erschien, doch schon vor dem offiziellen Festakt erlebt es einen Kindergeburtstag monumentaler Art, mit Ausstellungen, Lesungen, öffentlichen Partys, Plakataktionen. Das alles ist gut gemeint und oft rührend, andererseits aber auch überflüssig: Dieser Junge hat nun wirklich keine Werbung nötig.

Ein Tortengesicht für Jim Knopf

Wenn Jim Knopf einen Bruder in der Wirklichkeit hat, dann ist es der Sohn des Mannes, der einst das breite Tortengesicht für Jim Knopf erfand und Lukas als gutmütigen Arbeitertyp mit Pfeife im Mundwinkel dazustellte. "Mein Vater war ja ein Autodidakt", sagt Jan Peter Tripp, "das merkt man einfach bei jedem Blatt. Er beherrschte nur diesen etwas ungelenken Strich. Wahrscheinlich lieben die Kinder Jim Knopf und seine Freunde gerade deshalb." Der 66-jährige Jan Peter Tripp, der im elsässischen Mittelbergheim wohnt und selbst ein bedeutender Maler ist, hatte anfangs gar kein Interesse an dem Kinderbuch. "Für mich war der Zeitpunkt der Veröffentlichung ungünstig: Mit 15 oder 16 ist man mehr mit der Pubertät beschäftigt und gerade nicht mehr im Jim-Knopf-Alter."

Heute spricht der Sohn mit großem Respekt von der Arbeit seines Vaters, er liebt vor allem die Kinderbuchfiguren, die das Resultat mehrerer Zufälle sind. Franz Josef Tripp, Jahrgang 1915, wurde im Krieg nur deshalb Zeichner einer Soldatenzeitung, weil sein Vorgänger bei der Schlacht im Kaukasus irgendwann in den Dreck sank, getroffen von einer russischen Kugel. Der junge Gebirgsjäger übernahm aus purer Verzweiflung Stift, Feder und Pinsel. Er dilettierte und improvisierte auch nach Kriegsende und schlug sich als Gebrauchsgrafiker durch, bis er Ende der fünfziger Jahre die Verlegerin Lotte Weitbrecht vom Thienemann Verlag traf, die auch die weise Idee hatte, Michael Endes Phantasiewälzer in zwei Teile zu zerlegen.

Weitbrecht steckte Tripp das Manuskript des noch völlig unbekannten Kinderbuchautors zu. Und der schuf mit leichter Hand und einem Hang zu kleinen Schlampereien dann eine ganze Figurenwelt, die bis heute weiterlebt - so wie er später auch Otfried Preußlers Kinderbücher "Das kleine Gespenst" oder "Der Räuber Hotzenplotz" mit seinen kraftvoll-naiven Figuren prägte.

Für den Autor Ende bedeuteten die beiden Bücher - 1962 erschien der Nachfolgeband "Jim Knopf und die Wilde 13" - den Beginn einer Weltkarriere, die er später mit den Bestsellern "Momo" und "Die unendliche Geschichte" krönte. Franz Josef Tripp dagegen, der Auftragszeichner aus dem Allgäu, musste froh sein, überhaupt als Koproduzent wahrgenommen zu werden. "Leider war mein Vater geschäftlich unzurechnungsfähig", sagt sein Sohn. "Er war froh, wenn seine Sachen gedruckt wurden, um die Rechte hat er sich nicht gekümmert. Ich sehe es mit Freude, dass seine Leistung heute viel mehr als früher gewürdigt wird."

Und was das Jim-Knopf-Alter angeht, verhält sich die Sache seit Jahrzehnten gleich: Man wächst hinein wie in vererbte Kinderschuhe und dann wieder heraus - um das Erbe mit hoher Wahrscheinlichkeit an seine Kinder weiterzugeben. In diesem glücklichen Fall trifft man dann alte Bekannte wieder: die liebevolle Frau Waas, den Winzling Ping Pong, das geniale 32. Kindeskind des Herrn Schu Fu Lu Pi Plu, die ebenso kluge wie schöne Prinzessin Li Si. Sie sind alle wieder da, so präsent wie auf den Originalentwürfen von Franz Josef Tripp, die sein Sohn heute als kostbaren Besitz hütet und häufig für Ausstellungen bereitstellt.

Oft ist die Zweitlektüre mindestens so spannend wie die frühe Begegnung mit Jim Knopf. Kinder nehmen beispielsweise den Scheinriesen Tur-Tur, der nur aus weiter Ferne wie ein Gigant wirkt, aber aus nächster Nähe betrachtet in sich zusammenschrumpft, als armen Kerl wahr, mit dem man Mitleid haben muss. Erwachsene Leser haben gleich andere, realitätsnahe Assoziationen: Für sie steht der Scheinriese für die Neigung des Menschen, sich und andere über seine wahre Bedeutung zu täuschen - ein Hochstapler entlarvt sich selbst. Nebenbei gesagt: Das ist die Lieblingsepisode von Guido Westerwelle, der sich vor zehn Jahren als riesiger Jim-Knopf-Verehrer outete, indem er in einem Gratulationsbrief auf die Tur-Turisierung der deutschen Politik verwies.

Die Vorspiegelung falscher Tatsachen, das Wechselspiel von Realität und Scheinwelt, ist in allen Büchern von Michael Ende, der stark vom Surrealismus beeinflusst war, immer ein Thema. Jan Peter Tripp findet, dass es bei Jim Knopf immer mindestens zwei Lesarten gibt: "Ich habe die beiden Bücher durch den Spiegel meiner Kinder ganz anders kennengelernt." Als Vater machte er beim Vorlesen die Erfahrung, dass gute Literatur auch ein Problem sein kann: Sie ist viel zu schnell zu Ende. "Mein Sohn und meine Tochter wollten immer, dass ich auch so tolle Figuren erzählen kann, aus dem Stegreif. Das setzt einen ganz schön unter Druck."

Jim Knopf und seine schrulligen Freunde sind jedenfalls Typen, die einem nie mehr aus dem Kopf gehen. Die Lektüre setzt Maßstäbe: Wer seine Kinder allabendlich mit Conni (die mit der Schleife im Haar), Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg und den Wilden Kerlen unterhalten muss, greift gern zu den zerlesenen, mit Eselsohren versehenen und Kritzeleien verzierten Jim-Knopf-Bänden. Es sind Trophäen der Kindheit, sentimentale Erinnerungsstücke: Schließlich sehnen sich auch routinierte Vorleser nach gut erzählten, abgründigen Abenteuern, in denen es einmal nicht um konsumorientierte Nachwuchshexen oder um Comic-Idole geht.

Ist das also überhaupt noch ein Kinderbuch? Braucht man für die Einreise nach Lummerland vielleicht sogar ein Hochschulstudium? Die spannendste Neuinterpretation im Jubiläumsjahr stammt von der Autorin Julia Voss ("Darwins Jim Knopf"). Sie nimmt das Werk auf radikale Weise ernst und präsentiert gleich ein historisches Vorbild, das Parallelen zur fiktionalen Figur aufweist: Jemmy Button hieß der junge Feuerländer, den Charles Darwin in seinem berühmten Reisebericht "Die Fahrt der Beagle" erwähnt - ein Junge, der 1830 zum Preis eines Perlenknopfs an die Engländer verkauft und über den Ozean transportiert wurde.

Voss unternimmt den Versuch, das Buch als antidarwinistischen Gegenentwurf zur deutschen Bildungsgeschichte zu deuten. Der Terror in der Schule der reinrassigen Drachen von Kummerland, den die entführten Kinder in "Jim Knopf" erleben, erhält so ein neues Gewicht: Wer hier keine NS-Ideologen mit Ahnentafeln und Stammbäumen am Werke sieht, hat Jim Knopf wohl nicht ganz verstanden. Man muss die vielen Bezüge zu Mythen wie Atlantis oder den Nibelungen gar nicht weiter ausführen: Voss gelingt es zumindest, Michael Endes phantastische Einfälle noch einmal weiterzuspinnen.

Vielleicht muss man nicht ganz so weit gehen. Jim Knopf fesselt ja auf sehr einfache Weise, er schafft das ja auch bei der Wilden 13 - ein Blick, ein Trick, ein paar Handgriffe, schon liegen die besoffenen Piraten gefesselt am Boden, weil ein kleiner Junge den richtigen Moment abgewartet hat. Was das alles zu bedeuten hat, weiß wohl nicht einmal der Goldene Drache der Weisheit. Nur so viel ist sicher: Kinder haben ein erstaunliches Gespür dafür, was gute Action ist

© SZ vom 22.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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