Homer Simpson:Die Taten des vielgewanderten Mannes

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Böse Mächte mögen draußen drohen, zu Hause wird doch wieder alles gut: Der tragische Held Homer packt es am Ende doch immer wieder.

Willi Winkler

Wir müssen uns Homer Simpson als unglücklichen Menschen vorstellen. Übergewichtig ist er, sogar auf die donutförmigste Art und Weise fett um die müden Hüften, außerdem großnasig und mit Ende dreißig bereits haarlos, überdies mit einem bösartigen Chef geschlagen, andererseits aber so antriebsschwach, dass es auch schon wieder wurscht ist und Homer wie wir alle: arm, hässlich, dumm, und deshalb zu Recht geschlagen mit einem Durchschnittsleben, einem Durchschnittshaus und seiner Durchschnittsfamilie.

"Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich", heißt es in einem alten Buch, und je öfter dieser Satz aus dem tiefsten 19. Jahrhundert zitiert wird, desto wahrhaftiger wird er fürs aktuelle. Leo Tolstoi wusste natürlich nichts von Homer Simpson und hätte sich mit Grausen von diesem scheinheiligen Atheisten gewandt, dem metaphysisch nur beim Bier zumut wird oder wenn er in der Kirche mit seiner Frau "In-A-Gadda-Da-Vida" singt und sie dran erinnert, dass sie früher einmal zu Iron Butterfly gevögelt haben. Vor allem wäre der fromme russische Graf nicht darüber hinweggekommen, dass Homer Simpson ein Familienmensch und genau deshalb glücklich ist.

Homer weiß, dass alles schlimm ist und deshalb alles noch viel schlimmer werden kann, aber er hält das durch wie nur je ein Held in der tragischen Literatur. Dieser Retter von der traurigen Gestalt kann trotz allem seine Familie ernähren: seine frisurtechnisch herausgeforderte Frau Marge, seinen hyperaktiven Sohn Bart, seine hochbegabte Tochter Lisa und das dauerschnullernde Baby Maggie. Böse Mächte mögen draußen drohen, zu Hause wird doch wieder alles gut.

Komisch, dass Homer ausgerechnet Homer heißt. Er ist zwar behindert, weil er nur vier Finger hat und in seinem Ganzgelb doch recht ungesund aussieht, aber dieser Homer ist weder blind noch Grieche, und beim Hinweis auf die Odyssee fiele ihm wahrscheinlich bloß ein, dass die "d-oh!" Großstädter sich wieder einen unverständlichen Namen für ein gesundes, aber ganz bestimmt völlig ungenießbares Gericht ausgedacht haben müssen, und alles nur, um ihn zu ärgern, ihn, Homer Simpson, Bürger der durchschnittsamerikanischen Stadt Springfield, Arbeiter, Familienmensch, schwimmbereift und durch jahrzehntelange Fernsehsucht nicht unbedingt klüger geworden. Und doch ... Und doch sind die ersten Verse jener Odyssee eine Beschreibung seines (nur unwesentlich heroisierten) Ebenbilds: "Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,/Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,/Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat,/Und auf dem Meere so viel' unnennbare Leiden erduldet..." Ah, wie sie klappern, die Hexameter, und wie gut sie passen!

Kein Samurai, kein Westerner, kein Mafia-Killer

Homer, der moderne Homer, ist ein Dulder, wie es jeder von sich kennt. Er ist nicht der einsame Held, kein Samurai, kein Westerner, kein Mafia-Killer und Odysseus oder sonst etwas heldenhaft Terminatorisches, wie man es gern wäre. Wie wir alle leidet Homer unter seinem Beruf, ist mit einer Familie geschlagen, die ihn nicht ernst nehmen kann, für die er aber alles auf sich nimmt, weil er doch sonst nichts hat. Die Welt überfordert ihn, und trotzdem hat er sich einigermaßen in ihr eingerichtet. Selbst wenn es sie gäbe, wird bei diesem "ängstlich harrenden Dulder" keine Atlas-Tochter etwas ausrichten, und wenn sie ihm noch so sehr schmeichelte "mit sanft liebkosenden Worten". Die "Simpsons" zeigen das reale, realistische Utopia, und dafür hätte selbst der erlösungshungrige Tolstoi lange stricken müssen.

In einem "Simpsons"-Intro wird die Herabkunft dieses amerikanischen Jedermanns von der ersten amöbischen Zellteilung bis zum Platz vor dem Fernseher nachgezeichnet, wo ihn seine Frau Marge mit der gekrächzten Frage erwartetet: "Wo warst du denn so lang?" Aber es ist doch ganz einfach, Marge: Dein Mann musste sich erst zu dem entwickeln, was er ist, Weltbürger und Dorfdepp, Familien- und Gemütsmensch, der wahre Playboy der westlichen (und mittlerweile sogar der arabischen) Welt. Das nennt sich Evolution und geht nicht so schnell. Doch am Ende sitzt Homer da, wo er hingehört, auf dem Sofa, vor dem Fernseher, bei seiner Familie. Das Baby nuckelt am Schnuller, Bart hat mit dem Zappeln aufgehört, Lisa formuliert im Geist Briefe an Präsidenten und Könige, damit die endlich die Kyoto-Vereinbarung umsetzen, und Marge vergewissert sich, dass ihre Frisur sitzt. Das Fernsehen, also das Leben kann weitergehen. Nein, wir müssen uns Homer Simpson als glücklichen Menschen vorstellen.

© SZ vom 24.7.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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