Hartmut Haenchen:Aus Protest

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"Ich musste jede Nacht bei Hof über die Grenze, durfte nicht in der BRD schlafen." (Foto: Jörg Schulze/Bayreuther Festspiele)

Der Dirigent spricht über seinen "Parsifal"-Noteinsatz, die Tücken der Bayreuther Akustik und Richard Wagner in der DDR.

Interview von Egbert Tholl

Mit dem "Parsifal" gibt der Dirigent Hartmut Haenchen an diesem Montag sein spätes Bayreuth-Debüt. Es wird eine Festspieleröffnung ohne roten Teppich und ohne Staatsempfang, Horst Seehofer hat abgesagt. Die Aufführung wird den Opfern des Amoklaufs von München gewidmet. Haenchen, geboren 1943 in Dresden, springt für Andris Nelsons ein und dürfte Wagners "Bühnenweihfestspiel" so gut kennen wie kaum ein Zweiter. Oft hat er das Werk dirigiert: konzertant bereits in der DDR, wo szenische Aufführungen lange nicht erlaubt waren; dann an der Niederländischen Staatsoper in Amsterdam, deren Chefdirigent er von 1986 bis 1999 war; in Brüssel, Paris, Kopenhagen . . . Dabei befreite er den "Parsifal" von falschen Aufführungstraditionen. Nun dürfte es die zweitschnellste Aufführung des Werks werden, die Bayreuth je erlebt hat, nach der von Pierre Boulez 1966.

SZ: Herr Haenchen, wie lang brauchen Sie für den "Parsifal"?

Hartmut Haenchen: 1 Stunde 39 Minuten für den ersten Akt, 1.04 für den zweiten, 1.13 für den dritten.

Da waren Sie schon mal schneller, oder?

Nein. Vielleicht ein paar Minuten. Das ist die übliche Bayreuther Verzögerung. Die liegt an der Akustik hier. Der Nachhall ist viel größer. Man braucht ein bisschen mehr Zeit als in anderen Häusern.

Wie viele Proben hatten Sie hier?

Zwei Orchesterproben, dann für den ersten Akt zwei Bühnenproben, für die andern beiden je eine, noch eine Probe für Korrekturen, Haupt- und Generalprobe.

Diese Zeit reicht aus, um allen Beteiligten Ihre Interpretation nahezubringen?

Nein. Ich habe nicht die Zeit, dem Orchester zu erklären, warum dies und jenes so und nicht anders ist. Deshalb habe ich darauf bestanden, dass mein Orchestermaterial benutzt wird, weil darin Tausende von Einzeichnungen sind, die ich gar nicht die Zeit hätte anzusagen, um deutlich zu machen, was Wagner wollte, obwohl es gar nicht in der Partitur steht.

Die Musiker sind angehalten, zu Hause Haenchen-Quellenstudium zu betreiben?

Es gibt Musiker, die mich darauf angesprochen haben, dass sie das machen. Aber ich glaube nicht, dass es alle machen. Die gehen im Wesentlichen davon aus, dass ich das, was ich will, auch anzeigen kann.

Ist das Ihr Material von Paris 2008?

Es ist das Material, das ich bereits für Amsterdam erstellt habe. Jedes Mal wird das natürlich modifiziert, neue Kenntnisse, neue Quellen kommen dazu.

Was sind denn Ihre Haupterkenntnisse aus diesem quellenkritischen Material?

Als ich meinen ersten "Parsifal" dirigierte, habe ich aus der Erstdruck-Partitur dirigiert. 1972 erschien die neue Wagner-Ausgabe, die ich bei nächster Gelegenheit zur Grundlage gemacht habe. Dann ist man in dem Dilemma, dass man ein Notenmaterial fürs Orchester hat, das nicht mit der Partitur übereinstimmt. Erst habe ich also das alte Orchestermaterial nach der neuen Partitur korrigiert. Hier in Bayreuth spielt man im Grunde immer noch das alte, nicht angeglichene Material. Das führt auch zu heiteren Begebenheiten: Plötzlich steht da ein C in den Bratschen, aber ein Cis in den Posaunen, die darauf bestehen, aus ihren alten Stimmen zu spielen. Dann sagen die Bratschen, wir haben auch immer Cis gespielt. Da werde ich dann auch unsicher, wenn man in Bayreuth schon immer Cis spielt, dann muss ich das C in meiner Partitur hinterfragen. Ich habe in verschiedene Ausgaben geschaut, bin hier ins Archiv gegangen und habe in die Uraufführungspartitur geschaut: ein C.

Das heißt, in Bayreuth wurde Jahrzehnte lang falsch gespielt?

Ja. Das Cis hat Rubinstein in den Klavierauszug hineingeschrieben, weil er die Modulation mit C zu kühn fand. Von da gelangte es in die Orchesterstimmen.

Und außer dem C?

Sehr viel in der Artikulation. Falsche Bögen. Dann macht der alte Druck keinen Unterschied zwischen Punkt und Keil. Bei Wagner ist es aber entscheidend, ob ich ein leichtes Stakkato spiele oder ein akzentuiertes. Oder das Fortepiano. Wird traditionell als Akzent gespielt. Aber will Wagner einen Akzent haben, dann schreibt er sforzato piano. Da hat das Orchester in der ersten Probe schon gestaunt.

Sind das die Momente, wo Sie der Musik das falsche Pathos austreiben?

Genau. Und dann kommt man zu den Tempofragen. Toscanini etwa hielt "gehalten" für eine Tempobezeichnung. Es ist aber eine Artikulationsbezeichnung, es soll lang, aber nicht langsam gespielt werden.

Und so hat man eine Varianz von fast einer Stunde: Zwischen 3.56 bei Ihnen und 4.48 bei Toscanini.

Das ist beim "Parsifal" auch einmalig. In der "Götterdämmerung" sind es "nur" 40 Minuten.

Sind Ihre Kollegen von Weihe gelähmt?

Von Missverständnissen. Und von Weihe. Es gibt ja das Material der Uraufführung, von den Assistenten und den Sängern. Mit allen Anweisungen. Wagner selbst hat ja beim Überwachen der Dirigenten eigene Anweisungen aktiv geändert. Die Assistenten trugen das ein.

Wie lange brauchte Hermann Levi bei der Uraufführung?

Im ersten Akt 1.47. Das erklärt sich ganz leicht: Man muss zum Beispiel rausrechnen, was Humperdinck in die Verwandlungsmusik hineinkomponierte, weil die Verwandlung auf der Bühne bei der Uraufführung nicht fertig wurde.

Und so entstand der Begriff von der "Werkstatt Bayreuth".

Man kann einfach sagen: Wenn Kollegen bei zwei Stunden rauskommen, ist es von Wagner nicht so gewollt. Das Tempo kommt durch die Artikulation.

Bei Ihnen versteht man den Text besser?

Ja. Weil ich schon durch das Tempo falsche Atemzeichen vermeide, die einen Satz an falscher Stelle unterbrechen würden.

Bekam hier nun mit Ihrem Erscheinen die Inszenierung ein Problem?

Es gab Stellen. Bewegungsabläufe sind nun mal von Zeit abhängig. Die Sänger, die mit ihren Rollen hier debütieren, hatten das Problem, dass sie das, was sie mit meinem Kollegen probiert hatten, in ihren Körpern hatten. Die mit viel Erfahrung hatten damit kein Problem. Aber ich bin kein Radikaler und gebe schon mal ein bisschen was zu, wenn es der Sänger braucht.

Weshalb haben Sie sich schon so früh in dieses Werk verliebt?

Aus Protest! Gegen die DDR-Regierung. Alles, was verboten war, hat mich als junger Mensch interessiert. Natürlich war ich von der Musik fasziniert. Die Stasi verfolgte mich, seit ich 16 war, weil ich Flugblätter gegen eine Wahl verteilt habe. Meine erste Chefposition in der DDR habe ich deshalb verlassen müssen, weil ich mich weigerte, von Schostakowitschs zweiter Symphonie nur den Schlusschor zu dirigieren und die elf Minuten dodekaphonische Musik davor wegzulassen. Das wollte die Partei nicht hören.

Und doch durften Sie nach Bayreuth.

Ich glaube, das war beim zweiten Jahr vom Chéreau-"Ring", also 1977. Mit Pierre Boulez, bei dem ich hospitiert habe. Mehr war nicht drin, es wäre damals unmöglich gewesen, einem westlichen Dirigenten auch nur zu assistieren.

Wieso kamen Sie überhaupt raus?

Ich gehörte zum sogenannten Reisekader: Die Dresdner Philharmonie, deren Dirigent ich damals war, brauchte jemanden, mit dem man auch Westgeld verdienen konnte. Wegen Bayreuth habe ich dem Ministerium für Kultur so lange in den Ohren gelegen, dass die irgendwann nicht mehr Nein sagen konnten. Ich sagte einfach, für meinen Wagner muss ich in Bayreuth gewesen sein. Ich musste dann jede Nacht bei Hof über die Grenze, durfte nicht in der BRD schlafen.

Dachten Sie nie daran, einfach zu bleiben?

Zu dem Zeitpunkt noch nicht. Mit den Orchestern, die ich hatte, war ich hochglücklich. Ich dirigierte an der Staatsoper Berlin, hatte die Dresdner Philharmonie und wollte auch nicht mit Ende 20 schon alles gemacht haben, wie es junge Kollegen heute oft tun, weil sie so unter Druck stehen.

War Bayreuth ein Sehnsuchtsort?

Ja, schon. Je mehr Wagner ich gemacht habe, desto mehr. Bis zu dem Punkt, an dem ich selber woanders Produktionen mit sehr guten Besetzungen machen konnte.

Ist der Klang nun so magisch?

Für mich im Graben nicht, da ist es nur laut. Aber im Saal.

Aber das hören Sie nicht.

Man braucht sehr viel Erfahrung. Der Musikdirektor kam nach einer Probe zu mir und meinte, das sei schon erstaunlich, wie schnell ich einen Pfad gefunden habe.

Angerufen hat Christian Thielemann Sie nicht im Graben?

Nein, das hat er nicht. Das tat nur mein Assistent. Aber er war in vielen Proben, habe ich mir sagen lassen. Ich sehe es ja nicht von unten.

Bleibt Ihnen der "Parsifal"?

Das denke ich nicht, weil Andris Nelsons ja einen Vertrag hat für nächstes Jahr.

Würden Sie gern?

Ich würde schon gern, weil ich es gern noch mal richtig machen wollte. Also ins Detail gehen. Daran würde ich gern vier Wochen arbeiten. Wobei ich da ja nun Glück hatte: Man merkt einfach, dass "Parsifal" als einziges Stück für dieses Haus geschrieben wurde. Dessen Klang kann man nirgendwo sonst so herstellen wie hier.

Wenn Sie vom Graben hinaufschauen, was für eine Inszenierung sehen Sie denn nun? Wirklich eine islamkritische?

Na ja, erst einmal sehe ich nur die halbe Bühne, aber der Regisseur Uwe Eric Laufenberg erklärte mir, was er konzeptuell vorhat. Böse schaut das nicht aus. Doch er sieht sehr viel Christliches in dieser Oper. Ich hingegen nicht.

Sie kommen aber auch aus dem Land der Heiden.

Ja, ich bin aber selber Christ. Wagner hat ja alles Mögliche darin verwendet. Er hat das Publikum mit dem abgeholt, worunter es sich etwas vorstellen konnte. Und dann sein eigenes Ding gemacht. Das ist nicht einmal eine Ersatzreligion. Es geht um eine Männer-Gesellschaft, die untergeht. Das war übrigens nicht der Grund, weshalb man "Parsifal" lange nicht szenisch machen durfte in der DDR. Die Genossen mochten einfach den Gral nicht.

© SZ vom 25.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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