George Orwell bespitzelt:Absurdes Big-Brother-Theater

Lesezeit: 3 min

Wie britische Geheimdienste George Orwell bespitzelten - und warum er später dem System diente, das ihn 13 Jahre lang überwachen ließ.

Alexander Menden

Im Mai 1949, acht Monate vor seinem Tod, übergab Eric Arthur Blair, besser bekannt unter seinem Pseudonym George Orwell, seiner Freundin Celia Kirwan eine Liste mit den Namen von 38 prominenten Briten, darunter Charlie Chaplin und Michael Redgrave. Alle genannten Personen waren nach Orwells Ansicht "Krypto-Kommunisten und Mitläufer". Sie kämen, so der Autor, auf keinen Fall als Mitarbeiter des sogenannten "Information Research Department" im britischen Außenministerium in Frage, für das Kirwan arbeitete und das anti-sowjetische Propaganda produzierte.

Ein Verräter an den Linken?

Als die Liste 2003 bekannt wurde, entbrannte in Großbritannien ein heftiger Streit: War der vermeintlich unbestechliche Fackelträger des "Demokratischen Sozialismus", ein "Verräter an der Linken"? Oder hatte Orwells schwere Tuberkulose sein Urteil getrübt, wie der einzig Überlebende der 38 Inkriminierten, Norman Mackenzie, meinte? Jetzt steht zumindest eines fest: Die britische Regierung stufte den Autor selbst jahrelang als kommunistischen Sympathisanten und somit als potentielles Sicherheitsrisiko ein.

Eine soeben vom britischen Nationalarchiv in Kew freigegebene Geheimdienstakte belegt, dass der Autor zwischen 1929 und 1942 regelmäßig überwacht wurde, und zwar sowohl von der für innere Sicherheit zuständigen Scotland-Yard-Sonderkommission "Special Branch", als auch vom britischen Inlandsgeheimdienst MI5.

Das Interesse der Behörden an Orwell, dem in Eton erzogenen Sohn eines hochrangigen britischen Beamten, war erstmals erwacht, als er 1927 unvermittelt seinen Posten bei der Indian Imperial Police zugunsten eines Schriftstellerdaseins aufgegeben hatte. Während Orwells Zeit als Daily-Express-Korrespondent in Paris machte ein französischer Informant den "Special Branch" darauf aufmerksam, dass Orwell der Zeitung Worker's Life, dem offiziellen Organ der "Communist Party of Great Britain", seine Dienste angeboten habe. Im Februar 1936 zog der Polizeichef von Wigan bei Manchester bei Scotland Yard Erkundigungen über Orwell ein, nachdem dieser eine kommunistische Versammlung besucht hatte. Die Antwort des "Special Branch" belegt, dass in den frühen Dreißigern über den "Ex-Polizisten/Journalisten" genau Buch geführt worden war.

Die letzten Protokolle datieren vom Januar 1942. Orwell leitete mittlerweile die BBC-Abteilung, die während des Krieges den englischsprachigen Radiodienst für Indien aufrechterhielt. Er beschwerte sich beim Indian Office, nachdem dieses seinem Freund, dem marxistischen indischen Schriftsteller Mulk Raj Anand, eine Anstellung bei der BBC verwehrt hatte. Daraufhin vermerkte ein gewisser Sergeant Ewing vom "Special Branch" in der Akte, Orwell habe "hochgradig kommunistische Ansichten". Zudem kleide er sich "bohemienhaft, sowohl im Büro als auch in seiner Freizeit".

Der Überwachungs-Albtraum - ein Lebensbericht?

Solche absurden wie unheimlichen Auslassungen assoziiert man zwangsläufig mit Orwells sechs Jahre später entstandenem Hauptwerk "1984", in dem er schreibt: "Natürlich konnte man nie wissen, wann genau man beobachtet wurde. Wie oft, oder in welches System sich die Gedankenpolizei einschaltete, konnte man nur mutmaßen." Nun wäre es voreilig, Orwells brutalen Überwachungs-Albtraum rückblickend als Lebensbericht eines ständig von Spitzeln Gejagten zu lesen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er sich seiner Überwachung durch die britischen Behörden bewusst war.

Während der bedauernswerte Winston Smith in "1984" vom Big-Brother-Staat vernichtet wird, fand sein Schöpfer Orwell so etwas wie Fürsprache im System, das ihn bespitzelte. So antwortete ein Ministerialbeamter namens Ogilvie relativierend auf Sergeant Ewings Bericht: "Ich nehme an, dass der brave Sergeant nicht so recht wusste, wie er diese ziemlich individuelle Position beschreiben sollte. Es scheint aus Orwells jüngsten Schriften klar ersichtlich, das er nicht zur Kommunistischen Partei hält und sie nicht zu ihm." In einem anderen Bericht von 1942 heißt es, Orwell sei "früher ein wenig anarchistisch" und "in Kontakt mit extremistischen Elementen" gewesen, aber seine Haltung sei "weit von orthodoxem Kommunismus entfernt". Kurz darauf wurde die Akte geschlossen.

Der Roman "1984" und die Geheimakte über seinen Verfasser sind Dokumente des Misstrauens, das zwischen den Briten und ihrem sowjetischen Zweckverbündeten gegen Hitler herrschte, wenn auch auf unterschiedliche Art. Während der britische Staat eine antikommunistische Strategie verfolgte, setzte sich Orwells Dystopie aus repressiven Elementen des westlichen wie des östlichen Systems zusammen.

So lieferte die Erfahrung von Propaganda und Desinformation während seiner Zeit bei der BBC den Stoff seiner Beschreibung des berüchtigten "Wahrheitsministeriums". Entscheidender war jedoch die Verbitterung, die Orwell nach den Angriffen Stalin-treuer Kommunisten auf die "Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit" während des Spanischen Bürgerkrieges empfand. Spätestens seit Mai 1937 war seine Sympathie für jenen Stalinismus undenkbar, mit dem der "orthodoxe Kommunismus" im Westen gleichgesetzt wurde. Aus dieser Abneigung heraus wohl entschloss sich Orwell schließlich, dem System zuzuarbeiten, das ihn 13 Jahre lang überwacht hatte.

© SZ vom 5.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: