Genreübergreifend:Im Schattenreich der Süchte

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Yuki Mori inszeniert und choreografiert in Regensburg die Tanzoper "Les enfants terribles" nach dem gleichnamigen Roman von Jean Cocteau

Von Eva-Elisabeth Fischer, Regensburg

Gleich das erste Bild zieht einen hinein in diesen nachtblauen Raum zwischen Traum und Wirklichkeit. Dort leben sie, die Kinder der Nacht, "Les enfants terribles", die der französische Schriftsteller Jean Cocteau 1929 als verklausulierte Chiffren seiner Homosexualität und seiner Opiumabhängigkeit in einem Roman zu drangvollem Leben erweckte. Da stehen sie wie Hänsel und Gretel, sie im pinkfarbenen Kleid, er im übergroßen Pulli, zwei verlassene Gestalten, umgeben von Figuren in dunklen Anzügen, die alsbald den noch leeren Raum abschreiten werden, als durchliefen sie Schritt für Schritt den jeweils anderen nicht zur Kenntnis nehmend, die Planquadrate einer vorgezeichneten Katastrophe. Auf einem Gazevorhang erscheinen die Geschwister-Gesichter. Eine Stimme aus dem Off erzählt vom Unfall, der dem Jungen widerfährt und den der zugleich pantomimisch durchlebt.

Paul und Elisabeth, genannt Lise, Teenager an der Schwelle zum Erwachsenwerden, tauchen hinab in die Abgründe von Leidenschaft und Sexualität. Paul, er stirbt am Ende nicht an dem Schneeball, mit dem ihn ein gewisser Dargelos an der Brust, also direkt am Herzen trifft und zu Boden streckt, sondern an den eifersüchtigen Ränken der eigenen Schwester.

Messingbetten auf Rollen sind ihre Spielflächen in diesem Zimmer, das sich rechts auf Dorit Lievenbrücks kongenialer Theaterbühne zu einem spitzen Winkel verengt und so den Aktionsradius von Bruder und Schwester gleichsam in eine Sackgasse münden lässt. Wie auch den eines gewissen Gérard, der bei keinem von ihnen landen kann, und einer geheimnisvollen Schönen namens Agathe. Sie ist die weibliche Inkarnation des mysteriösen Dargelos, der immer nur als Name und Auslöser elementarer Gemütszustände, nur kurz zu Anfang als reale Person auftaucht.

Als Jean Cocteau "Les enfants terribles" schrieb, diente Agathe als notwendige Camouflage des vergeblich geliebten Mannes. Dies immer noch im Jahr 1950, als Jean-Pierre Melville das Buch verfilmte. Der amerikanische Minimal Music-Komponist Philip Glass hat 1996 aus dem Stoff eine seiner mehr als zwanzig (Tanz-)Opern, diesmal, das ist immer noch kühn, ausschließlich für Klavier komponiert, zu einer Zeit, als Liebe unter Männern ebenso wenig ein Tabu war wie Drogenkonsum. Der japanische Tanztheaterchef in Regensburg hat nun "Les enfants terribles" als Kooperation des Musik- und des Tanztheaters anlässlich des 80. Geburtstages des Komponisten choreografiert und inszeniert. Ihm gelang damit nicht nur ein ungewöhnliches Stück zeitgenössischen Musiktheaters, sondern vor allem eine Zeitreise durch die teils parallelen oder einander ablösenden Ästhetiken und Stile in den Künsten.

Im selben Jahr wie Cocteaus "Kinder der Nacht" drehte Luis Buñuel den "Andalusischen Hund" mit Salvador Dalís unter einem Rasierklingenschnitt zerfließenden Auge. Dalís Konterfei schmückt eine Plakatwand, die Lievenbrück auffahren lässt als Memento des Surrealismus. Und Mori konterkariert denselben klug mit dem Expressionismus, der damals, oftmals grotesk verzerrt, den Tanz rundum erneuerte. Und schlägt damit zugleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Analog zur Komposition von Phil Glass gehorchen seine postmodernen Schreittänze nur im ersten Teil den rigiden Mustern des Minimalismus. Wie Glass die Repetitivität endlos wiederholter Ostinati, basslastig getaktet, in der Stummfilm-musikalischer Melodramatik aufgehen lässt, reichert Mori sein Bewegungsvokabular durch gefühlsstarke Gebärden des Ausdruckstanzes an.

Was düster war, bleibt düster, gewinnt aber zunehmend an schrill-bedrohlichem Unterton. Die Sänger, die Tänzer ziehen mit. Jung sind sie und hochbegabt: Matthias Wölbitsch, Anna Pisareva, Judith Beifuß und Yinjia Gong als in unausweichlichem Unglück verhaftetes Quartett, wie auch die zehn männlichen und weiblichen Schemen, welche den Bewegungen verschatteter Psychen ihre Körper leihen. Dazu Chrisine Lindermeier, Levente Török und Satomi Nishi unerschütterlich, wenn auch erst ein wenig wackelig am Klavier. Die atmosphärische Spannung hält bis zur letzten Minute. Hinfahren. Anschauen.

© SZ vom 20.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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