Gedanken am Klavier:"Vorurteile dürfen den Geschmack nicht formen"

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Der Pianist Evgeny Kissin spricht über das Geheimnis des Schöpferischen, die wahre Interpretation und über betrunkene Präsidenten.

Helmut Mauró

Seit seinem sensationellen Debüt als Zwölfjähriger 1984 in Moskau gehört Evgeny Kissin zu den größten lebenden Pianisten. Bevor er sich in der nächsten Saison vorübergehend zurückzieht, brachte er noch Beethovens Klavierkonzerte auf CD heraus, demnächst folgen Prokofjews zweites und drittes Klavierkonzert, beide Brahms-Konzerte und schließlich Mozarts d-Moll KV 466 und B-Dur KV 575. In München spielt er am Mittwoch, 28. Januar (20 Uhr, Philharmonie) Werke von Prokofjew und Chopin. In einem Pariser Hotel redete er über Musik und Politik, während sich im Hintergrund ein Barpianist nach Kräften um Beethoven und Chopin mühte.

Herr der Tasten: Pianist Evgeny Kissin. (Foto: Foto: dpa)

SZ: Warum nehmen Sie schon in Ihrem Alter Werke ein zweites Mal auf?

Evgeny Kissin: Weil ich sie jetzt besser spiele. Zum Beispiel das Schumann-Konzert. Beim ersten Mal hatte ich gerade erst begonnen, das Stück zu studieren, und ich wurde zwei Tage vor dem Konzert gebeten, für Salvatore Accardo einzuspringen. Giulini dirigierte die Wiener Philharmoniker. Für mich war es damals die erste Gelegenheit, mit den Wienern zu spielen, und die nutzte ich natürlich. Aber das Konzert war noch nicht fertig, es war noch nicht in mir gereift. Das Stück scheint ja ganz einfach zu sein, aber darin liegt natürlich die größte Schwierigkeit.

SZ: Was macht Einfaches schwierig?

Kissin: Vielleicht schon die Tatsache, dass es einfach zu sein scheint. Das ist in höchstem Maße trügerisch. Letztlich war es dieses Schumann-Konzert, das mir zeigte, wie trügerisch alles Einfache in der Musik ist. Andererseits sollte man niemals mehr veranstalten, als vorhanden ist, es nicht verkomplizieren oder in die falsche Richtung komplexer gestalten, und natürlich keinesfalls in Manierismen verfallen. Das würde die Musik genauso ruinieren wie schiere Unbedarftheit. Es geht bei dieser Art Musik nicht immer so geradeaus, wie es den Anschein hat, und der ausführende Künstler muss die Musik mit großer Vorsicht behandeln - wie ein zerbrechliches Objekt. Dann erst kann er den Reichtum des Werkes entfalten.

SZ: Hat Schumann mehr hineingepackt, als beim ersten Blick zu sehen ist?

Kissin: Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Schumann das so genau wusste. Viele Künstler sahen in ihren Werken ganz anderes als die Nachwelt. Tschaikowsky etwa schätzte sein zweites Klavierkonzert viel höher ein als sein erstes. Und Rachmaninow spielt sein drittes Klavierkonzert so schnell, dass man an die Begründung vieler Experten denkt: Er musste so schnell spielen, damit es auf eine Schallplattenseite passt. In seinen Memoiren schreibt Rachmaninow dann tatsächlich, sein 3. Klavierkonzert sei 33 Minuten lang. Aber wenn man es tatsächlich so schnell spielt, kann man kaum etwas entwickeln von den Feinheiten und von den tragischen Momenten in diesem Werk. Man braucht 40 bis 45 Minuten, um dem Stück gerecht zu werden.

SZ: Woher kommt die Diskrepanz?

Kissin: Ich glaube, dass große Künstler unter bestimmten Bedingungen eine Art Medium werden. Natürlich muss man hart arbeiten, um etwas Großes hervorzubringen. Aber nicht jeder, der hart arbeitet, bringt Großes hervor. Also entsteht das Große vielleicht erst jenseits des Künstlerwillens. Rachmaninow übrigens mochte die Darbietungen seiner Werke durch Gieseking und Horowitz, auch die des dritten Klavierkonzertes. Die Ausführung von Horowitz kam seiner eigenen sehr nahe, aber die von Gieseking war sehr viel langsamer. Folglich gab es in den Augen oder Ohren des Komponisten schon einmal mindestens zwei Möglichkeiten, seinem Werk gerecht zu werden.

SZ: Vielleicht hat Rachmaninow sein Stück innerlich immer perfekt gehört?

Kissin: Möglich, aber als ausführender Künstler geht es genau um das, was äußerlich zu hören ist. Die Voraussetzungen sind eine Sache, die Ergebnisse eine andere. Meine Lehrerin sagte mir als Kind oft: Du meinst das Richtige, aber es ist nicht zu hören. Du denkst, man hört es, weil du es hörst, aber es kommt nicht heraus aus deinen Fingern. Und in diesem Punkt muss man dem großen russischen Klavierpädagogen Heinrich Neuhaus widersprechen, denke ich. Er behauptete, der Komponist sei der beste Interpret seines Werkes. Mal abgesehen von denen, die keine großen Bühnentalente sind, halte ich diese Meinung generell für falsch.

SZ: Muss man dem Komponisten die Werke entreißen, um sie angemessen zur Geltung zu bringen?

Kissin: Wir wissen natürlich nicht, was in dem Künstler während seines Komponierens vorging. Das ist wohl erst möglich, wenn die Wissenschaft da entsprechende Hilfsmittel entwickelt. Als Svjatoslav Richter einmal in Japan gebeten wurde, sich während eines Konzerts medizinischer Überwachung zu unterziehen, fragte er die Forscher, was sie denn da hören wollten. Sie sagten: die Musik Ihres Herzens. Und Richter sagte, er wünsche sich aber, dass sie sich Prokofjews Sonate anhörten.

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SZ: Wenn der Komponist nicht den Diskurs über sein Werk bestimmen kann, wer darf sich dann anmaßen, die letzten Dinge über Rachmaninow zu sagen?

Kissin: Der Komponist redet durch sein Werk immer mit. Aber ich habe mich zum Beispiel schon sehr gewundert, als ich hörte, Rachmaninows Werke gälten hier als Salonmusik. Persönlicher Geschmack ist eine Sache, aber wenn der Geschmack durch Vorurteile geformt wird, ist das wirklich sehr schade.

SZ: Sind diese Vorurteile nicht in den letzten Jahren schon weniger geworden?

Kissin: Das stimmt. Im Grunde bin ich da guten Mutes: Die jüngere Generation scheint von all diesen Vorurteilen nichts wissen zu wollen. Das gefällt mir. Sie hören weitgehend unvoreingenommen und bilden sich ihr Urteil aufgrund des Gehörten, nicht umgekehrt.

SZ: Vielleicht wollen zu viele Musikliebhaber und Kenner bestimmte Komponisten gegen andere verteidigen.

Kissin: Ich denke, das ist wirklich nicht nötig, schon gar nicht in Deutschland. Ich denke, Deutschland hat der Welt mehr große Komponisten geschenkt als irgendein anderes Land, eigentlich sogar mehr als alle anderen Länder zusammen. Und: Natürlich kann man das Genie von Rachmaninow nicht mit dem Genie von Beethoven vergleichen, aber ein Salonkomponist ist er deshalb noch lange nicht. Solche Vorurteile gibt es übrigens nicht nur in Deutschland. Von einem französischen Kritiker musste ich 1992 lesen, ich hätte aus einem Showpiece von Rachmaninow ein tief empfundenes Stück gemacht. Das hat mich ehrlich schockiert.

SZ: Weil Sie sich missverstanden fühlten oder weil Sie Angst hatten, die Musik missverstanden zu haben?

Kissin: Svjatoslav Richter hat ja gesagt, gute Musik, von einem guten Künstler vorgetragen, wird immer die Herzen der Hörer erreichen. Aber das stimmt nicht. Der Geiger und Musikpädagoge Michail Kazinik hat darüber geforscht und mit Technik-Studenten experimentiert, die er zunächst unvorbereitet und später vorbereitet ins Konzert schickte. Er kam zu dem eindeutigen Ergebnis: Man muss etwas wissen, um hören zu können. Die Studenten hörten die gleichen Werke einmal völlig indifferent und fanden die Musik langweilig, im zweiten Fall aber sehr aufregend. Sie behaupteten nachdrücklich, nicht die gleichen, sondern unterschiedliche Stücke gehört zu haben. Daraufhin beschloss Kazinik, sein ganzes Leben der Vermittlung klassischer Musik zu widmen. Was er bis heute tut.

SZ: In der kommenden Saison werden Sie nur zwei Soloauftritte haben; sind Sie reisemüde?

Kissin: Ich brauche etwas Zeit für mich, für Bücher, Filme, CDs, und für Freunde. Und tatsächlich habe ich auch keine Lust mehr, von den Städten nur Flughafen, Hotel und Bühne zu sehen. Früher, zu sowjetischer und postsowjetischer Zeit, wurden wir oft von den westlichen Veranstaltern eingeladen, ein paar Tage länger zu bleiben. Wir waren ja sehr billig, und so waren die Veranstalter großzügig.

SZ: Inwiefern sind Sie denn noch von der Sowjetunion geprägt?

Kissin: Ich habe das Ende der Sowjetunion als Kind erlebt und mich als Teenager schon in Freiheit entwickeln können. Das Wichtigste war doch, dass die Grenzen geöffnet wurden. Auch wenn in den letzten Jahren alles sehr schwierig geworden ist. Alle Politiker, die zur Macht gekommen sind, klammern sich daran und übernehmen westliche Parolen wie Freiheit und Demokratie, handeln aber nicht danach. Trotzdem verbinden die meisten Menschen Boris Jelzin mit Freiheit. Deshalb sind sie für diese sogenannten Demokraten, aber das ist eine große Katastrophe. Auch wenn die Bürger im Westen ihre Rechte oft ungenügend schätzen und verteidigen, muss ich sagen: Gottseidank gibt es hier eine alte, funktionierende Demokratie. Bei uns hingegen gibt es zu schnell den Ruf nach Führern.

SZ: Ist Putin nicht auch deshalb beliebt, weil er die Oligarchen bekämpft?

Kissin: Es ist wohl etwas komplizierter. Und so viele unterstützen ihn gar nicht. Die meisten sind indifferent. Viele finden Putin wohl besser als Gorbatschow und Jelzin. Letzterer war zu machthungrig, er tat einfach alles, was ihn an der Macht hielt. Und er war natürlich ständig betrunken. Und das angesichts dieser Machtfülle. Das ist unverantwortlich.

SZ: Putin ist da eher das Gegenteil; immer nüchtern?

Kissin: Die Russen sagen: Zunächst hatten wir einen großen, guten und betrunkenen Präsidenten. Mit Putin haben wir einen kleinen, nüchternen, bösen.

© SZ vom 26.1.2009/holz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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