Frei-Körper-Kultur, Folge 1:Kriegerin ohne Rüstung

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In Zeiten von Burkastreit, Badenackten und Pornoästhetik erscheint ihre Kunst in einem besonderen Licht: Amelie Haller ist Teil einer wachsenden Szene junger Performer in München, die allein mit ihrem hüllenlosen Körper arbeiten

Von Thomas Jordan

Über Amelie Hallers Nase zieht sich der Länge nach ein etwa zwei Millimeter breiter, gleichmäßig geformter, dunkelroter Strich. Er beginnt auf Höhe der Augen und reicht fast bis zur Nasenspitze. Bei ihr wirkt das wie Kriegsbemalung. Seit etwas mehr als zwei Jahren steht die 23-Jährige Münchner Studentin fast jede Woche als Körperperformerin auf der Bühne. Mit Seilen an Brust und Becken verschnürt, hängt sie in einer ihrer Arbeiten von der Decke und führt eine Art Fesselballett auf: Immer wieder holt sie energisch Schwung, verrenkt sich, um ihrem Partner Heiner Stöckle näher zu kommen, einem anderen, jungen Körperkünstler aus der schnell wachsenden Münchner Performance-Szene. Aber Bewegung ist nur mühsam möglich in dieser Darstellung eines Beziehungsverlaufs ohne Worte. Tief schneiden die groben Seile ins Fleisch. "Ich habe gemerkt, ich kann mit meinem Körper einfach als Material umgehen", sagt die zierliche, 1,62 Meter große Haller zu ihren Auftritten.

Mit schwarzem Wollpullover und brauner Hornbrille auf der Nase sitzt sie in der Mitte des engen, grauen Kellerraums des ehemaligen "Theaters der kleinen Künste" im Münchner Gärtnerplatzviertel. Der Altbau an der Buttermelcherstraße ist in den vergangenen sieben Jahren zur Keimzelle für die jungen Münchner Körperperformer geworden. Dort trafen sich der Regisseur und Theaterwissenschaftler Dominik Frank und seine Studenten mit Gruppen aus der freien Theater-Szene mehrmals pro Woche zum Proben und Spielen vor Studenten, Künstlern und der interessierten Öffentlichkeit. In ihrer "Reenactment"-Reihe kombinierten sie in den letzten Jahren Elemente aus der Performance-Tradition von berühmten Vorbildern wie Hermann Nitsch und Marina Abramović mit eigenen Arbeiten. Sie wollten herausfinden, was Scham heute bedeutet, wenn virtuelle Nacktheit im Internet allgegenwärtig ist, der physisch greifbare Körper sich aber mehr und mehr ins Private zurückzieht. Vor ein paar Wochen mussten sie schließen. Die Anwohner hatten sich über den Lärm beschwert.

Das Tageslicht kann man von hier unten nur erahnen, und an den wuchtigen Betonsäulen, die den ohnehin schon kleinen Raum weiter verengen, wuchert der Schimmel. "Man verliebt sich in diesen Raum, so grausam er ist." Die Stimme der 23-Jährigen, die in ihrer forschen und sachlichen Art immer ein wenig schroff klingt, lässt die Kompromisslosigkeit erahnen, mit der sie dabei Schmerzen in Kauf nimmt und ihre eigene Schamgrenze überwindet. "Wenn du nackt bist, sprichst du einen Text anders, als wenn du Klamotten anhast. Du kannst dich nicht mehr verstecken. Es fühlt sich pur an und echt und verleiht dem Ganzen eine Ehrlichkeit, eine seelische Echtheit."

Amelie Halller treibt den Körper hoch konzentriert an die Grenzen der Belastbarkeit. Bald ziehen Teile der freien Theaterszene nach Neuperlach um. (Foto: Jean-Marc Turmes)

Haller will die besondere "Schönheit", wie sie sagt, herausarbeiten, die entsteht, wenn nackte Körper gegen einen Widerstand ankämpfen, sich an ihm erschöpfen. In einem Video ist sie mit beiden Füßen an der Decke aufgehängt, mit einer Hand hangelt sie sich mühsam den staubigen Steinboden entlang. Mit der anderen schreibt sie, Buchstabe für Buchstabe, mit weißer Kreide Sätze des französischen Philosophen Foucault über das Verhältnis von Körper und Geist auf den harten Steinboden. Sie windet sich, um das Schreiben erträglicher zu machen, mal winkelt sie die in der Luft hängenden Beine an, mal streckt sie sie aus. Dazu ertönt eine Frauenstimme: "In der Liebe spürt man, wie sich der Körper in sich selbst schließt." Nach knapp 20 Minuten sieht man Haller auf den Ellenbogen völlig entkräftet aus dem Bild robben, die letzten weißen Kreidezeilen auf dem grauen Betonboden sind kaum mehr lesbar. Ihre Schrift ist zum Abbild ihrer körperlichen Erschöpfung geworden.

Kürzlich hat ihr eine Kritikerin vorgeworfen, wenn die 1,62 Meter große und 48 Kilo schwere Studentin ihren nackten Körper einsetze, dann verstärke das beim Publikum unrealistische Ideale von Weiblichkeit. Haller, der von Kopf bis Fuß eine zähe, sehnige Mädchenhaftigkeit anhaftet, widerspricht. Sie will die vorgefertigten Bilder von Nacktheit, die in den Köpfen stecken, überwinden: "Ich glaube, dass die spezifische Körperlichkeit, wie du gebaut bist, extrem zurücktritt und nach einiger Zeit eine reine Körperlichkeit, eine reine menschliche Fleischlichkeit in den Vordergrund tritt." Manchmal gelingen bei ihren Auftritten solche Momente. Ihr wendiger Körper wird dann zur lebenden Skulptur der Mühen der menschlichen Existenz.

Es gibt ein Video von Haller, in der weiße, rote und gelbe Flüssigkeiten über ihren Kopf ausgeschüttet werden, in Großaufnahme sieht man, wie die dickflüssige Masse über ihren nackten Unterleib läuft. Wie geht sie damit um, wenn Leute ihre Performances als Pornografie abtun? Am Anfang, vor zwei Jahren, hatte sie mit dem Vorwurf zu kämpfen. Sie fragte sich damals: "Werde ich da missbraucht für die Fantasien von jemandem?" "Nein, entschied sie, "Ich habe die Kontrolle darüber und kann jederzeit sagen, ich hab kein Bock mehr und zieh mir jetzt 'ne Hose an."

Schon öfter hat sie erlebt, dass ihr aus der eigentlich "demütigen Position", in die sich bei ihren Aufritten begibt, soziale Macht erwächst. Etwa wenn sie nackt ins Publikum geht und mit einer Polaroid-Kamera die Blicke fotografiert, die auf sie gerichtet werden. "Die wenigsten Leute schauen dir in die Augen, auch auf die Brüste traut sich kaum einer zu schauen. Es ist für die teilweise unangenehmer als für mich." Haller erzwingt in solchen Momenten die öffentliche Auseinandersetzung mit ihrer Nacktheit. Ganz nah stellt sie sich vor die Zuschauer, 50 Zentimeter ist sie von ihnen entfernt. "Schamgefühl ist eine tolle Sache, es schützt dich ganz extrem", sagt sie, "aber in der Kunst ist es spannend, dass du es bis zu einem ganz großen Grad ablegen kannst." Zwischen Bühne und Privatleben versucht sie, strikt zu trennen. Nur weil sie Kunst als "geschützten Raum" wahrnimmt, könne sie ihren Körper in extreme Situationen bringen und mit Tabus brechen: "Du bist in dem Moment wahnsinnig verletzlich, weil es live ist, weil es echte Menschen sind, die im Zuschauerraum sitzen, die dich anfassen können. Es entsteht eine große Nähe, die du bereit sein musst, zuzulassen."

Der rote Streifen auf ihrer Nase, sagt sie am Ende, als sie die Treppe aus dem stickigen, grauen Performance-Keller nach oben ans Tageslicht steigt, sei übrigens eine Narbe. Seit zwei Jahren verheilt sie einfach nicht mehr.

© SZ vom 27.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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