Frei-Körper-Kultur:Bis zur totalen Erschöpfung

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Lisa Grinda tanzt schon immer, in ihren Performances auch nackt

Von Anne Heigel, München

Einfach still stehen, 40 Minuten lang, nackt, in einem Türrahmen. Der Blick von Lisa Grinda ist direkt auf die Augen ihres ebenfalls nackten Gegenübers gerichtet. Wer den Keller der kleinen Künste an diesem ersten Abend einer Reenactment-Reihe betreten will, muss durch genau diesen Türrahmen, zwischen den beiden hindurch. Er ist schmal, sodass ihn die zwei zierlichen, nackten Körper schon zur Hälfte ausfüllen. Jeder Besucher muss sich also entscheiden: In welche Richtung den eigenen Körper drehen, um hindurch zu passen, welchen der beiden Körper dabei streifen. Und wohin soll der Blick gehen? Die meisten Besucher sind kurz irritiert, dann leicht peinlich berührt. Sie wollen die Sache schnell hinter sich bringen. Möglichst unauffällig.

"Es war Wahnsinn, was für eine peinliche Atmosphäre herrschte", erinnert sich die 22 Jahre alte Performerin Lisa Grinda. An diesem Abend haben sie und ihr Partner die Türrahmen-Performance von Marina Abramovic von 1977 wiederaufgeführt. Es war das erste Mal, dass sie bei einer Performance mitgewirkt hat, das erste Mal, dass sie sich nackt vor Publikum gezeigt hat. Dass kein Stückchen Stoff ihre Haut von den durchschlüpfenden Besuchern getrennt hat, war für Grinda kein Grund, sich schutzlos zu fühlen: "Ich habe mich irgendwie unantastbar gefühlt, weil ich wusste, dass ich die Leute in eine unangenehme Situation bringe, nicht andersherum."

Lisa Grinda lebt nun seit drei Jahren in München, die gebürtige Mittelfränkin studiert Theaterwissenschaft im sechsten Semester an der LMU. Über das Theaterspielen ist sie mit der Performance-Kunst in Berührung gekommen und, anders als sie selbst erwartet hatte, dabei geblieben. Als sie das erste Mal von den Aktionen der berühmten serbischen Performance-Künstlerin Marina Abramovic gehört hatte, empfand sie Performances als abstoßend. "Das, was sie so gemacht hat, sich den Bauch aufgeschnitten und solche Sachen, empfand ich als völlig fernab von meinem Kunstbegriff", sagt Lisa Grinda.

Heute, zwei Jahre später, bezeichnet Grinda Marina Abramovic als ihr großes Vorbild. Den Alltag verlangsamen, den Moment erleben, das fasziniert die 22-Jährige an der 69-Jährigen. So muss sie immer, wenn sie ein Glas Wasser trinkt, an Abramovic denken, die mal gesagt hat, dass selbst das Trinken eines Schlucks Wasser zu einem erlebbaren Moment gemacht werden kann, man müsse sich eben nur Zeit dafür lassen. "Egal was du machst, du musst es mit totaler Aufmerksamkeit und einer großen Hingabe machen", sagt Grinda.

Wenn sie erklären will, weshalb sie Abramovic so sehr bewundert und was genau sie so an der Performance-Kunst begeistert, gestikuliert sie wild mit ihren feingliedrigen Händen, als könnte sie so diese Kunstform besser fassen. Auch ihren Kopf legt Lisa Grinda ständig schräg, wenn sie ihre neue Leidenschaft zu begründen versucht. Die kleinen, silbernen Ringe, von denen jeweils drei ihre beiden Ohrläppchen schmücken, wippen dabei hin und her. Diese kleinen Ringe sind übrigens das einzige, was sie bei ihren Performances nicht ablegt.

Grinda ist Teil einiger Münchner Theaterprojekte, sie leitet auch eigene Theater- und Tanzgruppen für Kinder an Montessorischulen. Getanzt hat Grinda schon immer, von Hip-Hop über Modern Dance bis hin zu Ballett. Diese Erfahrungen kamen ihr zugute, als sie bei einer anderen Performance erst 45 Minuten lang nackt auf Spitze getanzt hat, um dann während des achtminütigen Finales von Strawinskys "Sacre du printemps" vor dem Publikum zu stehen. Stehen, nicht tanzen. Auf Spitze. Nur die Erschöpfung hat den Körper bewegt. "Eigentlich war es schon kein Stehen mehr, es war eine Art Tanz, der daraus bestand, dass ich mich eigentlich nicht mehr auf der Spitze halten konnte, es aber trotzdem tat", sagt Grinda. Pünktlich zum letzten Ton ist sie dann zusammengebrochen, laufen konnte sie nicht mehr. Durch die extreme Körperanstrengung hat sie sich nicht mehr nackt gefühlt: "Vor lauter Schweiß habe ich so geglänzt, das war wie ein Kostüm."

Nackt war sie auch in ihrer bisher letzen Performance, ebenfalls innerhalb der Reenactment-Reihe im Keller der kleinen Künste. Zwar hatte sie anfänglich einen Maleranzug an, doch der wurde schnell abgelegt. Gemeinsam mit einer anderen Performerin gestaltete Grinda eine Ecke des Kellers, die mit Absperrband vom restlichen Raum abgetrennt war. Privatheit in der Öffentlichkeit schaffen, das war der Gedanke dahinter. Angelehnt an "Body Eye", ein ähnliches Projekt der US-Performerin Carolee Schneemann in den Sechzigerjahren, benutzten sie Dinge wie Kreide, Folie, Farbe, Zeitschriften und Klebeband, um ihr "Zuhause" für diesen einen Abend zu gestalten.

Um die gewünschte Atmosphäre zu erzielen, bedarf es für Grinda auch ein wenig Brutalität. Auf der Bühne habe diese einen kathartischen Effekt, findet sie: "Durch das Miterleben eines bestimmten Extremzustandes kann der Zuschauer eine Art Erleichterung erfahren." Schockieren will Lisa Grinda dabei aber nicht. "Es geht darum, einen Moment zu schaffen, von dem beide Parteien etwas haben und wo etwas nachhallt."

Alles, was sie an Kleidung oder Requisiten mit auf die Bühnen nimmt, trägt für Lisa Grinda zum Kunstwerk bei. Nackt zu agieren, das ist für sie das Roheste und das Menschlichste, was sie anzubieten habe. Durch das Spielen mit Extremsituationen würde für sie ein Moment oder ein Gefühl der Echtheit kreiert. Echtheit und Rohheit, diese beiden Wörter benutzt Lisa Grinda auffällig oft.

© SZ vom 01.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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