Frankfurter Buchmesse 2006:Das jüngste Gerücht

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Die Buchmesse ist wieder da und damit ihre gewöhnlichen Verdächtigungen. Nein, nein! Nicht die, ob dieses oder jenes Buch wohl zum Bestseller tauge. Sondern: Warum wohl der Kritiker ausgerechnet dieses oder jenes Buch lobt oder ablehnt. Mit anderen Worten: Der Buchbetrieb ist wieder ganz bei sich. Wie immer, wenn er sich mit sich selber beschäftigt.

Thomas Steinfeld

Unlängst saß ein deutscher Dichter auf einem Podium und wollte erklären, ob man einen Bucherfolg planen könne. Wie es bei Fragen so geht, auf die man keine systematische Antwort geben kann, wurde er persönlich. Sein jüngstes Buch, erzählte er, habe viele enthusiastische Kritiken erhalten, allerdings auch ein oder zwei schlimme Verrisse. Das aber, so meinte er, gehöre zu den Gepflogenheiten der Branche.

Bis zum Sonntag präsentieren Aussteller aus über 100 Ländern mehr als 350.000 Bücher und Medien. Nach 1986 ist Indien bereits zum zweiten Mal als Gastland vertreten. (Foto: Foto: ddp)

Denn schließlich sei er für einen großen Preis nominiert worden, und da sei es selbstverständlich, dass mindestens ein Kritiker widerspreche, um parasitär die Aufmerksamkeit auf sich selbst und sein Medium zu richten. So sei die Branche, so seien ihre Spielregeln, so werde einer jeder in seinem Recht auf einen Erfolg behindert. Das Publikum nickte. Ungefähr so hatte es sich den Weg zum Ruhm auch vorgestellt.

Man versteht den Dichter. Ein Verriss tut weh. Eine einzige negative Kritik verursacht größere Schmerzen, als durch Dutzende von Huldigungen aufgewogen werden kann. Kein Wunder also, dass er sich schützen will. Der Kritiker habe gar nicht auf sein Buch reagiert, versichert er sich selbst und seinen Zuhörern, sondern nur dem Zwang zur Ranküne gehorcht, der dem Betrieb innewohne.

Wer A sagt, muss B meinen

Ja, man versteht den Dichter, der sich so eine Kritik vom Leibe hält. Was man hingegen nicht versteht, ist das einverständige Nicken des Publikums: Denn mit diesem Nicken befreit es sich von allen Argumenten für und wider das Werk. Im selben Maß, wie es der Behauptung applaudiert, alle negative Kritik speise sich aus dem Willen zur Intrige, befreit es sich vom Buch selbst. Die Frage nach seinen Qualitäten wird in der Frage aufgelöst, wer darüber in welcher Funktion und an welchem medialen Ort spricht. So verschwindet das Buch in der Durchleuchtung dessen, der über das Buch redet.

Unlängst schrieb ein deutscher Kritiker auf, was er sich über die mediale Präsenz von Peter Handke, Botho Strauß und Martin Walser dachte. Diese drei Schriftsteller, meinte er, seien die eifrigsten Zuwortmelder im Literaturbetrieb und stilisierten sich zugleich zu inbrünstigen Feinden des Medienmarktes.

Die perfideste Art und Weise, sich im Literaturbetrieb zu engagieren, erklärte er, bestehe darin, sich dem Literaturbetrieb zu verweigern. Diese Behauptung ist zwar falsch - Botho Strauß nimmt zwar nicht an Talkshows teil und gibt auch keine Interviews, aber ihn für eine schriftliche Äußerung gewinnen zu wollen, ist ein keineswegs aussichtsloses Vorhaben.

Und sowohl Peter Handke als auch Martin Walser sind durchaus für publizierte Gespräche zu haben. Das aber reicht dem Kritiker offenbar nicht aus. Ihn stört selbst die schmale Distanz, die diese drei Schriftsteller zwischen sich und den allfälligen Podiumsgesprächen lassen.

Unlängst trafen Schriftsteller, Verleger und Kritiker zusammen und sprachen, wie sie es so oft tun, über eben diesen Literaturbetrieb. Dabei ging es nicht um Dichtung, sondern um Rezensionen, um Preise und Auszeichnungen aller Art: Das habe der Kritiker B nur getan, weil der Kritiker A das Buch so gelobt habe, sagten sie, und hier sei noch eine Rechnung offen, und dort walte eine alte Freundschaft.

Das Buch selbst ist in dieser Redeweise nur der schwache Nachklang, ein dünner Abdruck allein soziologisch und psychologisch zu erfassender Verhältnisse, das Echo persönlicher Beziehungen. Ganze Debatten sind in den vergangenen Jahren so geführt worden - die über Martin Walsers ,,Tod eines Kritikers'' zum Beispiel, oder die Diskussion über Maxim Billers ,,Esra'', ein Buch, das eigens für die Gerüchteküche des literarischen Betrieb geschrieben zu sein schien. Immer ging es um die Personen, selten um das Buch und dessen literarische Qualität, immer um das ,,Wer mit wem'' oder das ,,Wer gegen wen''.

Ein Korrektiv ist das Gerücht schon lange nicht mehr

Das Gerücht war einmal, in Gestalt des misstrauischen Blicks auf künstlerische Verhältnisse, ein Akt der Befreiung - solange, wie die Literatur mit einer Kunstreligion im Bunde war, die in ihrem Enthusiasmus für überzeitliche Werte nicht sehen wollte, dass in der Kunst Menschen mit menschlichen Interessen aufeinander reagierten.

Diesem überbordenden Idealismus tat es gut, dass im zwanzigsten Jahrhundert immer dringender nach den privaten, prosaischen Interessen der Dichter gefragt wurde: Veriss Friedrich Schiller, der selbsterklärte Sachwalter des Schönen und Edlen, im Jahr 1791 die Gedichte Gottfried August Bürgers wirklich nur deshalb, weil er deren Volkston für blanken Populismus und also einen ästhetischen Irrtum hielt - oder wollte er sich eines lästigen Konkurrenten entledigen?

Diese Frage gehörte einmal zur Aufklärung der Literatur über sich selbst, als Korrektiv ihrer Überhöhung. Ein solches Korrektiv ist das Gerücht schon lange nicht mehr. Dazu fehlt ihm die andere Seite, die Verehrung der Dichtung. Statt dessen erlebte es im literarischen Betrieb der vergangenen Jahrzehnte einen immer größer werdenden Triumph: aus der sich zunehmend radikalisierenden Interessensvermutung ging eine ihr entsprechende Verdachtskultur hervor.

Die Unterstellung, in jedem ästhetischen Urteil verberge sich vor allem ein persönliches Motiv, ist inzwischen so sehr zur zweiten Natur des Betriebs geworden, dass kaum noch vorstellbar erscheint, jemand echauffiere sich tatsächlich aus ästhetischen oder intellektuellen Gründen.

Gewiss, ein Gerücht birgt viele Vorteile: Wer es weitertragen kann, und sei es mit allen Vorzeichen der Distanz, nimmt Teil am literarischen Betrieb, liefert sich seiner Energie aus, geht ein in die anarchische, plötzliche, alle Hierarchien überspringende Bewegung, die vermeintlich das glühende Innere des ganzen Gewerbes bildet.

Und hat nicht ein gutes Gerücht eine Frische und Lebendigkeit, die der darin abgehandelten Literatur immer wieder fehlt? Wer gut informiert tratschen kann, entlastet sich vom Druck des literarischen und intellektuellen Urteils; er geht ein in die ebenso vitale wie diffuse, enthusiastische Gemeinschaft, die auf den Fluren und Festen der Buchmesse in Frankfurt kein Innehalten, kein Stehenbleiben erlaubt.

Denn jede leibliche Konfrontation ist dem Gerücht abträglich, sie nimmt ihm seine spirituelle Kraft. Ein wirklich gutes Buch aber dürfte diesen zur ewigen Flüchtigkeit verdammten Verkehr der Meinungen und Vorlieben gar nicht nötig haben. Um ein solches Werk zu erkennen, dürfte die Frage, wer dahintersteht, und aus welchen Motiven er das tut, keine Rolle spielen.

Je hingebungsvoller aber der Literaturbetrieb den Gerüchten vertraut, desto weniger traut er sich selbst. Je mehr Kolportage, desto weniger Literatur. Das erste Opfer aber einer allein herrschenden Interessensvermutung ist die ästhetische Kritik. Wenn bei jedem Argument, das einer in der Diskussion um ein literarisches Werk äußert, sofort nach seinen persönlichen und pragmatischen Beziehungen gefragt wird, schwindet die Fähigkeit der Literaturkritik, tatsächlich ästhetische Kontroversen auszutragen. Sie verwandelt sich in einen geschlossenen Club, in dessen Zentrum eine auf den Hund gekommene Wissenssoziologie pausenlos umgewälzt wird.

Es fehlt gegenwärtig nicht viel, und das betriebliche Gerücht wird zur ,,hardware'', die, damit sie funktioniert, der literarischen Werke nur noch als ,,software'' bedarf. Allmählich, Schritt für Schritt, nähert sich die Literatur auf diese Weise Verhältnissen an, wie sie in der Bildenden Kunst schon seit Jahrzehnten und in vielen Regionen des deutschsprachigen Theater spätestens seit Christoph Schlingensief bestehen: Hier haben das Konzept, der Einfall und seine stets unzureichende Begründung längst alle Kritik hinter sich gelassen - über Geltung und Wirkung der Konzepte verfügt ein Netz von Eingeweihten. Dagegen gibt es nur ein Mittel: stehenbleiben, und sei es mitten in der Menge, in der ersten Etage der Halle Drei, Gang H, wenigstens eine Viertelstunde lang.

© SZ vom 04.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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