Filmkritik:Im Netz der Leidenschaften

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David Cronenberg spürt in "Spider" einer hieroglyphischen Existenz nach. Er durchquert in seinem subtilsten, strengsten und wagemutigsten Film den inneren Horror eines Mannes, der sich die Schizophrenie als fatalen Selbstschutz erfunden hat.

Von Rainer Gansera

"Das Schrecklichste ist ein Labyrinth ohne Zentrum", heißt es bei Jorge Luis Borges, der sich mit Labyrinthen aller Art auskannte, besonders mit denen der Imagination.

In seinem düster-faszinierenden Psychodrama "Spider" taucht David Cronenberg in eine labyrinthische Seelenlandschaft ein, die ohne Zentrum und ohne Ausgang ist, die sich unendlich kalt und öde darbietet, trostloser als die Hölle, und er setzt dies, nach der Vorlage des gleichnamigen Romans von Patrick McGrath, mit kompromisslos-bestechender Konsequenz in Szene.

"Spider" entwirft nicht einfach das Porträt eines von traumatischen Kindheitserlebnissen gequälten, paranoid-schizophrenen Mannes, sondern schwingt sich mit jedem Bild in die Wahrnehmungsweise seines Helden Dennis "Spider" Cleg (Ralph Fiennes) ein.

Jedes Bild also ist Verstörung, Bann, Rätsel, überscharfe Präsenz und gespenstisches Nichtdasein, schwankend zwischen Realität und Einbildung, wahrer und falscher Erinnerung. Ein Thrill der Weltabgewandtheit, der sich anfühlen soll, so Cronenberg, "wie eine Konfrontation zwischen Samuel Beckett und Sigmund Freud".

Der Vorspann blättert eine Reihe von Aufzeichnungen hin, die mal aussehen wie Rorschachtest-Klecksereien, mal wie Überbleibsel von Cy-Twombly-Gemälden. Es wird in diesem Film darum gehen, voller Hingabe Spuren zu lesen, und die Geheimschrift eines von ungreifbaren Dämonen heimgesuchten Schicksals zu entziffern.

Erster Schauplatz: der Bahnhof in London. Man sieht die Einfahrt eines Zuges. Eigentlich die Urszene des Kinos, die besagen will: Das Leben beginnt, stürzen wir uns hinein. Hier aber lässt die Kamera die Aussteigenden an sich vorüber gleiten, und setzt sich mit einer suggestiven Fahrt gegen den Personenstrom in Bewegung, nähert sich langsam einer Pennergestalt: Spider, der unverständliches Zeug vor sich hin murmelt und uns in das geistesverwirrte Einsamkeits-Universum mitnimmt, in das er sich verstrickt hat.

Er streift durch ein Industrieviertel, in dem die Straßen derart ausgestorben und die Farben so abgeblättert braun-dunkelgrau sind, als wäre die Welt vor langer Zeit untergegangen, und landet in einer heruntergekommenen Pension.

Ganz allmählich, wie in dramaturgischer Zeitlupe, enthüllt sich, dass er die letzten zwanzig Jahre in einer psychiatrischen Anstalt zubrachte und nun in diesem Asyl für Psychiatrie-Freigänger Obdach finden soll.

Schnell offenbart sich sein äußerst prekärer Wirklichkeitsbezug, er meidet Kontakt, entzieht sich der megärischen Heimleiterin (Lynn Redgrave) wie ein trotziges Kind, spinnt sich in Bindfaden-Netze und ausschweifende Wahn-Erinnerungen ein.

Wir ahnen, dass er sich verzweifelt müht, das schreckliche Geheimnis seines Traumas zu ergründen. In Rückblenden sieht er sein 13-jähriges Kinder-Ich ein Familiendrama durchleiden, das mit dem Mord an der Mutter endet.

Mit einer beinahe beängstigenden Präzision macht Ralph Fiennes die abgrundtiefe Verlorenheit Spiders bis in jede Körperfaser spürbar und vermeidet all das Pittoreske, mit dem das Kino üblicherweise Irresein garniert.

Cronenberg-Fans werden bei dem Titel "Spider" ein Horrorstück mit bekannten Ingredienzen wie Monster-Insekten, Biopods und mutierenden Körpern erwarten. Solche Genre-Versatzstücke lässt der kanadische Regisseur beiseite. Er durchquert in seinem subtilsten, strengsten und wagemutigsten Film den inneren Horror eines Mannes, der sich die Schizophrenie als fatalen Selbstschutz erfunden hat.

Wer Cronenberg-Filme immer schon als Dramen einer von massiven Ängsten und Schuldgefühlen umlagerten Sexualität gelesen hat, wird sich bestätigt fühlen. Er wird aufmerksam registrieren, wie sich im Zentrum des Seelenlabyrinths schließlich doch etwas zeigt - ein in sich gespaltenes Mutter-Bild: einerseits die erotisch aufgeladene, liebenswerte Mama, andererseits die schrill-abstoßende Hure.

SPIDER, Kanada/Frankreich/Großbritannien 2002 - Regie: David Cronenberg. Buch: Patrick McGrath, nach seinem Roman. Kamera: Peter Suschitzky. Musik: Howard Shore. Schnitt: Ronald Sanders. Produktionsdesign: Andrew Sanders. Mit: Ralph Fiennes, Miranda Richardson, Gabriel Byrne, Lynn Redgrave, John Neville, Bradley Hall, Gary Reineke. Columbia TriStar, 98 Minuten.

© SZ vom 9.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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