Filmfestspiele in Cannes:Orgie in Pink

Lesezeit: 3 min

Sozialdemagogie, Fußballfieber und Sofia Coppolas Zuckertorte "Marie Antoinette"

Tobias Kniebe

Suchen die Amerikaner nach einem neuen politischen Kino und sind damit völlig überfordert? Sind explizite Sexszenen immer noch der beste Weg, um in Cannes von allen gesehen zu werden? Und wo, beim Barte des Partygotts Dionysos, waren wir, als Jorge Ben Jor mit 200 brasilianischen Sambatänzerinnen an der Croisette einfiel und ein mittlerweile sagenumwobenenes Konzert gab? Die drängenden Fragen eines Filmfestivals verlieren schnell jeden Bezug zur Realität, nur manchmal gibt es noch Erinnerungen an die Außenwelt. Wie dieser kollektive französische Urschrei, der am Montag durch das Festivalpalais fuhr, als Hunderte von Verzweifelten aus dem Dokumentarfilm "Zidane, ein Porträt des 21. Jahrhunderts" ausgesperrt wurden. Der Festivalchef persönlich musste eingreifen, um die Massen mit einer Wiederholungs-Vorführung zu beruhigen.

Auch in pink: Adriana Karembeu. (Foto: Foto: rtr)

Vorrevolutionäre Stimmung herrscht derzeit auch in manchen Gegenden von Belgien und Italien, glaubt man den Wettbewerbsbeiträgen von Lucas Belvaux und Paolo Sorrentino. Hier wie dort herrscht offenbar bitterste Armut, die Globalisierung wirft die Arbeiterklasse in die nackte Verzweiflung zurück, ein unerschwingliches Mofa oder der Preis eines schäbigen Hochzeitsessens stehen für existenzielle Krisen.

Belvaux' arbeitslose Helden, einst stolze Stahlarbeiter in Liège, nehmen in "La raison du plus faible - Das Recht der Schwächsten" die Umverteilung der Reichtümer wieder selbst in die Hand, sie planen einen Überfall und wollen eine Million Euro erbeuten. So trifft das Thriller-Genre auf eine Sozialdemagogie, die schon zur Zeit von Dickens oder Victor Hugo nicht mehr ganz frisch war - und Belvaux gönnt sich auch noch selbst eine peinlich pathetische Heldenrolle. In Sorrentinos "L'Amico di famiglia - Der Freund der Familie" wiederum nimmt der Raubtier-Kapitalismus die Gestalt eines alten, bösen und exzentrischen Geldverleihers an, den man am Ende vielleicht sogar mögen soll. Daraus wird aber nichts, denn ingesamt krankt der Film an seinen bizarren, letztlich unerklärlichen Manierismen.

Weiter also zu "Marie Antoinette", Sofia Coppolas dritter, ungeduldig herbeigesehnter Regiearbeit. Die Erwartungen, die nach ihrem Meisterwerk "Lost In Translation" auf dem Coppola-Sprößling lasteten, könnten höher kaum sein. Knisternde Spannung, als die ersten Bilder aufleuchten: Die weißblonde, porzellanhäutige Kirsten Dunst als künftige französische Königin, beim Ankleiden mit ihrer Zofe. Eine Orgie in Pink, überall rosa Schleifchen, rosa Rüschen, eine riesige rosafarbene Zuckertorte auf dem Nachttisch ... und Schnitt. Die Vorführung ist zu Ende, es gibt Buh-Rufe, aufgebrachte Franzosen machen ihrem Ärger lauft: Hier wurde eine Kultur, eine Idee, ja ein ganzes Land offenbar beleidigt. Was in Gottes Namen ist geschehen?

Sooo dubarry

Zunächst mal gab es wohl falsche Erwartungen. Sofia Coppola hat nie behauptet, dass sie die wichtigen historischen Ereignisse verarbeiten wolle, dass auch die Belange der darbenden Bevölkerung für ihren Ansatz wichtig sei. Sie will sozusagen das Gegenteil von Sozialdemagogie: Die volle Konzentration auf eine große Unbekümmerte, die sich so lange keinen Kopf um gar nichts macht, bis dieser Kopf dann plötzlich unter der Guillotine liegt. Akzeptiert man den Film nach seinen eigenen Regeln, lassen sich reizvolle Momente finden: Wenn die 15-jährige beim Grenzübertritt von Österreich nach Frankreich (historisch korrekt) völlig entkleidet wird, weil keine Faser österreichischen Stoffes mit ihr reisen darf; wenn das Unwissen oder die Unwilligkeit ihres ebenfalls minderjährigen Ehemanns Louis XVI. dazu führt, dass hektische Sex-Depeschen zwischen den Höfen hin- und hergehen; oder wenn, in Anspielung auf Madame Dubarry, der Gespielin des Königs, Marie und ihre Freundinnen stillose Schuhe mit dem Hinweis bewerten, diese seien "sooo dubarry" und daher unakzeptabel.

Schon wahr, so reden Highschool-Girls - und hier zeigt sich dann plötzlich schlagend, was Sofia und Marie verbinden könnte: Beide sind Prinzessinnen großer Dynastien, stets verwöhnt, umsorgt und von den Niederungen des Pöbels ferngehalten. Die Coppolas (Cousin Jason Schwartzman ist als Louis XVI. dabei, Bruder Roman als Second Unit Director, Vater Francis als Produzent) verkörpern dabei eine Überlegenheit des Talents, des Modegeschmacks und der ewigen Hipness, die man durchaus als aristokratisches Geburtsrecht bezeichnen könnte. Das ist der wahre Schock dieses Films: Wie die Regisseurin unbewusst und komplett unreflektiert den Logenplatz an der Seite ihrer Heldin einnimmt. Alles, was man an Gebrochenheit und Lebensklugheit auf ihr Alter ego in "Lost in Translation" projiziert hat, muss dann wohl leider ein Missverständnis gewesen sein - anders ist die Naivität im Kern von "Marie Antoinette" nicht zu erklären.

So kann es gehen, so geht es in diesem Jahr mit vielen großen Erwartungen in Cannes. Man prügelt sich fast um einen Blick auf "Zidane" - und dann ist der Saal fast leer, wenn der Film wiederholt wird. Der vielleicht größte Fußballer der Gegenwart im Spiel Real Madrid gegen Villareal (April 2005), mit 17 High-Definition-Kameras permanent gefilmt und neunzig Minuten im Bild, unter der Regie von Turner-Preisträger Douglas Gordon und Philippe Parreno - das klingt in der Ankündigung nach einer Traumbegegnung von Fußballkunst und Experimentalfilmerei. In der Praxis aber macht es nur wieder einmal klar, wie sehr im Fußball der Ball selbst der Star ist, und wie schnell es langweilig wird, wenn er aus dem Blickfeld gerät. Die Szenen, die seine Eleganz wirklich erkennen lassen - die haben Gordon und Parreno dann doch wieder aus dem spanischen Fernsehen geklaut.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: