Filme als Provokation:Der Sozialpornograph

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"Was soll die Aufregung? So ist doch die Wirklichkeit" - Ein Porträt über Ulrich Seidl, Österreichs ungewöhnlichsten Filmemacher.

Martin Zips

Es war in der Ukraine, als Hollywood plötzlich auf Österreich traf. Irgendwann im vergangenen Winter stand Kameramann Ed Lachman aus Kalifornien in einem ukrainischen Krankenhaus.

Ulrich Seidl filmt Hundebesitzer, Freizeitparkbesucher oder Christen bei ihrer Suche nach dem Glück. (Foto: Foto: oh)

Lachman hatte schon mit Steven Soderbergh, Wim Wenders und zuletzt Robert Altman gedreht. Er ist ein kleiner Star seiner Zunft. Nun filmte er mit dem Österreicher Ulrich Seidl, der ihn auf einem Festival in Amsterdam mal angefragt hatte. Lachman kannte Seidls Filme und mochte sie. Also sagte er zu.

Von Hollywood war Lachman gewohnt, dass man vor allem im Studio dreht; dass es am Set fließend Wasser gibt; dass Dutzende Arbeiter bei der professionellen Ausleuchtung von Szenen helfen. Doch hier war alles anders.

Am Set war es kalt und dunkel. Wenn Lachman mal was an der Beleuchtung ändern wollte, so ließ ihn Regisseur Seidl höchstens eine 40-Watt-Glühbirne durch eine 60-Watt-Glühbirne ersetzen. "Unsere Dreharbeiten waren eher ungewöhnlich für ihn", sagt Ulrich Seidl.

Filme als Herausforderung

Wien, neunter Bezirk, Dachgeschoss eines Jahrhundertwende-Hauses. Hier entsteht gerade "Import/Export", der neue Film von Ulrich Seidl. Österreichs ungewöhnlichster Filmemacher - er gibt nur selten Interviews - sitzt an einem Mischpult vor lauter Monitoren. "Möchten Sie einen kleinen Ausschnitt sehen?", fragt er.

Auf einem Bildschirm erscheint ein Baby. Es liegt auf einem rostigen Tisch in einem riesigen, weiß gefliesten Raum. Drei Krankenschwestern beugen sich über das Kind, kontrollieren die Infusion. Sie sprechen Ukrainisch. Was sie sagen, versteht man nicht. Das Baby weint ein bisschen. Und hustet. Dann weint es immer mehr und hustet immer lauter. Erst scheint sein Gesicht rot anzulaufen, dann weiß, dann blau. Irgendwann winselt das Baby nur noch. Es droht zu ersticken.

Die Filmszene dauert Minuten, man erträgt sie kaum. Für das Baby geht es um Leben und Tod. "Angesichts der wirklichen Probleme in der Welt widert mich vieles bei uns hier einfach an", sagt Ulrich Seidl. Er schaltet den Film aus.

Seidl hat schon Dokumentationen über koksende Fotomodels gedreht, über eher unsympathische Kleinwüchsige, über Männer mit asiatischen Frauen und sehr extreme Hundebesitzer.

Wer mal einen Seidl-Film gesehen hat, der vergisst ihn nicht. Seine Filme schmerzen. Sie erzwingen recht brutal den Blick über den eigenen Tellerrand hinaus.

Haupthelden spielen selbst

Meist lässt Seidl seine Hauptdarsteller sich selber spielen. Es bedarf langer Vorgespräche, bevor ihm gottesfürchtige Katholiken ihre ganz persönlichen Gebete in die Kamera sprechen.

Es braucht Geduld und Hartnäckigkeit, bevor ihn Menschen, die ihre Freizeit ausschließlich in Vergnügungsparks verbringen, zu sich ins Karussell steigen lassen. Aber es klappt. Immer wieder.

Und dann hält Seidl seine Kamera auch dann noch drauf, wenn es dem Zuschauer schon lange wehtut. Er stellt Menschen aus, bei denen man nicht immer weiß, ob sie noch alle beisammen haben.

Und er schafft es, dass sich jeder am Ende seiner Filme fragt, ob er eigentlich selbst noch alle beisammen hat. Zum Beispiel, wenn er sich über die schlechte Auswahl an Espresso-Maschinen im Kaufhaus aufregt, seinen nächsten Urlaub wieder in einem All-Inclusive-Resort verbringen will und das, was im Fernsehen abends berichtet wird, für wirklich relevant hält.

Durchbruch mit Hundstage

Weil er in seinen Filmen die Wirklichkeit so ungeschminkt in Szene setzt, beschimpfen manche Menschen Ulrich Seidl als "Sozialpornographen". Als den "berüchtigsten Dokumentaristen des alltäglich Abnormen" (Neue Züricher Zeitung).

Seine Eltern, erzählt der 54-Jährige, hätten seine Premieren nie besucht und seine Filme stets gemieden. "Nach allem, was sie darüber hörten, hatten sie Angst, etwas zu sehen, was sie nicht sehen wollten." Unterschichten-Filme. Prekariats-Praktiken. Menschliche Abartigkeiten. Das Elend.

Erst nach zahlreichen Filmpreisen und Lehraufträgen an Filmhochschulen hätten sie erkannt, dass aus ihrem Sohn doch etwas geworden sein könnte, sagt der ganz in Schwarz gekleidete, unauffällige Ulrich Seidl in der Wohnung, die mal seinem Großvater gehörte.

Jetzt beherbergt sie das Büro seiner Filmproduktionsfirma. Auf dem Regal steht eine Madonnenfigur. Daneben ein Sensenmann. In diesen Räumen dürfte auch im Frühjahr noch Novemberstimmung herrschen.

Durch "Hundstage" - dem ersten Film, in dem Seidl auch professionelle Schauspieler einsetzte - wurde der Österreicher vor fünf Jahren weltbekannt. Die Geschichte über menschliche Abgründe zwischen Einkaufszentren und Reihenhäusern lief und läuft in mehr als 25 Ländern. Die Rolle des Vertreters für Alarmanlagen besetzte Seidl mit einem Vertreter für Alarmanlagen. Den Frauenpeiniger besetzte er mit dem Besitzer eines Wiener Swingerclubs.

Auf den Filmfestspielen in Venedig gewann Seidl den Großen Preis der Jury. Den Chef des Swingerclubs nahm er zur Preisverleihung mit. "Ich mag die Menschen, mit denen ich arbeite", meint Seidl. Diese Nähe wird in seinen Filmen spürbar. Auch das macht sie so besonders. "Die meiste Zeit ihres Lebens verbringen die Menschen mit der Suche nach Glück und Liebe. Auch bei mir ist das nicht anders."

Neuer Kinofilm

Mitte nächsten Jahres soll "Import/Export" in die Kinos kommen. Es ist die Geschichte der ukrainischen Krankenschwester Olga, die ihr Glück im Westen sucht. Und es ist die Geschichte des Wiener Vorstadt-Glatzkopfs Fritzl, der auf der Suche nach dem Glück im Osten landet.

Seidl, der im kommenden Jahr bereits zum zweiten Mal bei Frank Castorf an der Berliner Volksbühne inszenieren wird, drehte auf Pflegestationen, in Internet-Sex-Studios und bei Reinigungsfirmen.

Er habe Wert darauf gelegt, auch die Wirklichkeit in einem ukrainischen Krankenhaus genau so abzubilden, wie sie wirklich ist, sagt er. Seine Laiendarsteller stellte er auf der Kinderstation neben echte, schwer kranke, schreiende Babies.

Das wird für Diskussionen sorgen. Der erzwungene Blick über den eigenen Tellerrand hinaus kann für Zuschauer recht schmerzhaft sein. Damit spekuliert Seidl. Eine Masche, natürlich. Aber wohltuend im oberflächlichen, kommerziellen Filmgeschäft. Und glücklicherweise sogar recht erfolgreich.

Doch Seidl hat es mit seinen Ideen nicht immer leicht. Seine Dokumentation "Tierische Liebe", in der Menschen gezeigt werden, für die die Grenzen zwischen Tierliebe und Sodomie fließend sind, hat der ORF bis heute nicht ausgestrahlt. Zu heftig. "Hundstage" wiederum wurde bisher nur in einer zensierten Fassung im Fernsehen gezeigt.

Seidl druckst bei dem Thema ein bisschen rum und meint schließlich, er habe kein Problem damit. Er habe das ja unterschrieben, als er Geldgeber suchte. Er sagt auch, dass er kein Problem damit habe, ein Voyeur zu sein. Kino sei ja immer Voyeurismus.

Voyeurismus gehört dazu

Voyeurismus kann bei Seidl auch sehr, sehr komisch sein. In seinen Filmen gibt es nämlich diesen typischen Blick: Nur ein Viertel des Bildes füllt der Mensch aus, um den sich die Geschichte dreht. Drei Viertel des Bildes aber sind die Orte, die diesen Menschen umgeben.

Und weil die Typen in Seidls Filmen dadurch immer so mickrig wirken, überkommt den Zuschauer mit den Akteuren bald eine Art Mitleid. In einer seiner ersten Produktionen, Seidl war Ende 20 und Student an der Wiener Filmakademie, hielt er die Kamera niederösterreichischen Provinzpolitikern vors Gesicht. Er ließ sie einfach reden. Der Film lief später in Wiener Kinos. Die ganze Stadt lachte über die mickrigen, schwafelnden Politiker.

Seidl wollte sein Werk auch den Menschen in dem Ort zeigen, wo er gedreht hatte. Aber die Provinzpolitiker machten Druck und drohten dem örtlichen Kinobesitzer mit der Kürzung von Subventionen. Da mietete sich Seidl selbst das Kino und zeigte seinen Film. Der Skandal im Ort blieb aus. Die Menschen sagten: "Was soll die Aufregung? So ist doch die Wirklichkeit."

Seidl sollte Priester werden

Seidl ist in Horn aufgewachsen, im Waldviertel. Eine verlassene Gegend - direkt an der tschechischen Grenze. Unter den fünf Kindern seiner Eltern, einem Internisten und einer Hausfrau, war ausgerechnet er dazu ausersehen, Priester zu werden. Doch in der Kirche, wo er ministrierte, stahl er sich Geld für Kinokarten aus dem Klingelbeutel. Schlechte Voraussetzungen für den Dienst am Nächsten.

Beim gemeinsamen Familienessen am Sonntag musste stets über die Predigt des Pfarrers geredet werden und was man aus ihr lernen kann. Auf kindliche Widerrede hagelte es Hausarrest und Verbote. Wegen seines Hangs zur Provokation sowie gelegentlicher Versetzungsprobleme in der Schule muss es Seidl daheim nicht leicht gehabt haben.

Erste Filmaufnahmen heute heiß begehrt

Schließlich schaffte er die Matura, in Wien schrieb er sich an der Uni für Kunstgeschichte ein, gleichzeitig arbeitete er als Lagerarbeiter, Briefträger und Chauffeur. Er besuchte die Wiener Filmakademie und begleitete einen Playboy-Fotografen bei Aufnahmen in Tunesien. Seinen Film wollte damals niemand kaufen, was Seidl ein kräftiges Loch in die Geldbörse riss.

Heute wird er ständig nach den Aufnahmen gefragt. Und immer wieder rufen Anwälte bei Seidl an und verbieten ihm die Weitergabe. "Die Trutschn, die der Fotograf damals fotografiert hat, war nämlich Sonja Kirchberger", sagt Seidl. Mit ihrer Vergangenheit als Playboy-Modell wolle die Schauspielerin heute nicht mehr konfrontiert werden. Schon gar nicht durch ihn.

Seine Mutter sei - kurz bevor "Hundstage" in Venedig ausgezeichnet wurde - gestorben, erzählt Seidl am Schneidetisch. "Ich habe ihr meinen Preis gewidmet." Sein Vater, heute 85 Jahre alt, sagte ihm kürzlich am Telefon, dass er all seine Filme nun auf DVD gesehen habe.

Er besitze nämlich neuerdings einen DVD-Player. Mit 85. Mehr habe sein Vater dazu nicht gesagt. Doch nun schenkt Ulrich Seidl, der mit einer Journalistin liiert ist und drei Kinder hat, seinem Vater regelmäßig DVDs - etwa mit Filmen von Kieslowski oder Pasolini.

Oder auch mal einen Bildband mit Werken von Goya. Und seitdem interessiere sich der alte Herr nicht nur für die Maler der Wachau, sondern plötzlich auch für ihm bislang völlig fremde Welten.

Der Filmemacher Ulrich Seidl sagt, dass sein Vater diesen Blick über den eigenen Tellerrand hinaus als Gewinn betrachtet.

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