Film:Im Banne der Sirenen

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Abwärts bitte! Ein Held, der den Aufzug nimmt - Tobey Maguire in "Spider-Man 2".

Von Tobias Kniebe

Der Junge hat, man kann es nicht anders sagen, ein Problem mit Polizeisirenen. Das langgezogene Heulen in den Straßen Manhattans, es trifft ihn ins Mark und zieht ihn mit. Ob er gerade einen Job macht, den er nicht verlieren will, ob gleich eine Vorlesung beginnt, die er nicht versäumen darf, ob seine große Liebe am Ende der Straße auf ihn wartet - wenn der Ruf der Sirene ertönt, fährt ein Ausdruck von Qual und Sehnsucht in sein Gesicht. Dann muss er hin, muss mit, muss alles stehen und liegen lassen, zum Ort des Verbrechens rasen und schauen, was Sache ist. Weil einer den Job ja machen muss, weil es ohne ihn eben nicht geht. Eine ziemliche Psychonummer. Sie setzt ihn, wie wir sehen werden, mental sehr unter Druck - und macht ihn außerdem arbeitslos und beziehungsunfähig. Selbst Odysseus, der einst auch ein Sirenenproblem hatte, könnte da kaum weiterhelfen.

Tobey Maguire (Foto: Foto: dpa)

Aber Moment mal - ist dieser Junge nicht Spider-Man? Ein Held, selbstlos im Dienst der Verbrechensbekämpfung? Ein Retter, den wir dringend brauchen, der Superkräfte besitzt und den Sirenen nur deshalb folgt, weil er Leben retten und Unrecht verhindern kann? Wohl wahr - und wahr ist auch, dass ihn die Menschen dafür lieben. Gerade erst hat er, am Eröffnungstag von "Spider-Man 2" in den USA, sagenhafte 40,5 Millionen Dollar eingespielt - die höchste Summe, die je ein Film an einem Tag verdient hat - und sich dann am langen Gesamtwochenende auf 180 Millionen Dollar hinaufgeschraubt. Ist das nichts? Reicht das nicht schon, um ihn mit seiner Mission zu versöhnen?

Der unpünktliche Parker

Nun ja, nicht ganz. In seinem Alltag nämlich ist Spider-Man immer noch Peter Parker. Und gerade jene Menschen, die ihm am nächsten sind, dürfen nichts von seiner Berufung wissen. Sie wundern sich nur, dass er nie pünktlich ist, nicht Wort hält, fahrig und unausgeschlafen wirkt. Und irgendwann wundern sie sich auch nicht mehr, sondern schreiben ihn ganz einfach ab. Wie Mary Jane Watson, seine große Liebe: Sie spürt immer noch, dass ihr Peter Parker etwas zu sagen hätte - sie hat es nur aufgegeben, darauf zu warten.

Das ist nun, ehrlich gesagt, ein sehr altes Thema. Genauso alt wie der Superheld mit Persönlichkeitsspaltung - siehe Batman, Superman und der ganze Rest. Und also bedeutet es etwas, wenn man sagen kann: Schöner als hier, in diesem zweiten "Spider-Man", hat man dieses Dilemma trotzdem noch nie auf der Leinwand gesehen. Der Regisseur Sam Raimi und sein Hauptdarsteller Tobey Maguire sind nicht schlecht darin, Spider-Man durch die Luft zu jagen, auf Zügen und Wolkenkratzern in den Kampf zu schicken.

Aber so richtig in Fahrt kommen sie erst, wenn das Heldenkostüm in die Ecke fliegt. Dann geht es um Ängste, Sorgen und Widrigkeiten, die plötzlich jeder kennt, dann kämpft Peter Parker, der Versager als junger Mann, mit dem schrecklichsten Gegner überhaupt: seinem Alltag.

Das führt zu haarsträubenden, herzergreifend normalen, wunderbar bizarren kleinen Situationen. Und gerade diese beiläufigen Szenen sind es, die im Gedächtnis bleiben - trotz dramatischer Special Effects, gewaltiger Actionsequenzen und einem sehenswerten, tentakelbewehrten Bösewicht namens Doc Ock, lustvoll verkörpert von Alfred Molina. Einmal zum Beispiel beschließt Peter Parker, seinen Job als Pizzafahrer dadurch zu retten, dass er die bestellten und in minutenschneller Lieferung zugesagten Pizzen im Spidersuit durch die Lüfte schwingt. Das klappt auch ganz gut, bis er vor dem Problem steht, das Gebäude am Ziel der Reise unauffällig zu betreten. Er entscheidet sich für den Einstieg in ein dunkles Fenster - und landet prompt in der Besenkammer. Sein Versuch, diese Kammer unauffällig zu verlassen, während ihn eine Horde Wischmops bedrängt und eine Empfangsdame interessiert beobachtet, ist ein kleines komisches Juwel.

Genau wie der Moment im Waschsalon, wo der Spidersuit die Boxershorts rosa gefärbt hat; oder die Sequenz, in der seine Spinnendrüsen plötzlich versagen und er - wie jeder Mensch, der ein Hochhaus bestiegen hat - den Aufzug nach unten nehmen muss. Überhaupt, die Sache mit dem Drüsenversagen: Man muss kein Sexualtherapeut sein, um dies als Zeichen einer schweren Störung zu deuten. Auch hier gilt der Satz, dass das wahre Problem im Kopf liegt - und der Versuch einer Lösung mündet in einer radikalen Entscheidung: Der Spidersuit, der in diesem Moment auch überraschend dünn und schäbig aussieht, fliegt einfach in eine Mülltonne. Was natürlich, da muss man kein Prophet sein, auf Dauer nicht in Frage kommt. Nein, der Durchbruch zum Besseren erfolgt am Ende eher in die andere Richtung, in eine reine, dennoch nicht würdelose Männerphantasie.

"Go get them, Tiger!"

Mary Jane Watson, die stets überzeugende Kirsten Dunst, die sich für eine gewisse Zeit in Träume von einer Theater- und Ehekarriere verliert, kann das Geheimnis ihres Lovers schließlich lüften - und nimmt die Dinge, wie Frauen das eben so machen, entschlossen selbst in die Hand.

Kaum hat sie geschworen, Spider-Man und Peter Parker als Gesamtpaket zu akzeptieren, mit allen Verpflichtungen, Obsessionen und Gefahren, da ertönt schon wieder eine Polizeisirene. Ein Ausdruck von Qual und gleichzeitig Sehnsucht fährt in sein Gesicht, an Küssen ist jetzt nicht mehr zu denken. Er muss hin, muss mit, muss alles stehen und liegen lassen - so leid es ihm tut, auch sie. Und sie versteht. "Go get them, Tiger!", sagt sie nur und bleibt allein zurück, im Blick den Schmerz finaler Erkenntnis. So sind sie, die wahren Helden - und solche Frauen brauchen sie an ihrer Seite. Eine nationale Phantasie

Wobei das dann doch, wenn man recht überlegt, weit mehr ist als eine Männerphantasie. Es ist eine ganze Nationenphantasie. Die Abenteuer dieses Superhelden sind auch die Abenteuer jener Supermacht, die ihn hervorgebracht hat - selbst wenn er nie so dämlich war, sich ein Sternenbanner umzuhängen und sich "Captain America" zu nennen.

Der Ruf der Polizeisirenen in Manhattan klingt am Ende nicht anders als der Ruf von Bombendetonationen und Kalaschnikows auf der ganzen Welt. Krieg, Unruhe, Diktatur: Sirenengesänge in den Ohren Amerikas. Da muss man hin, muss mit, muss alles stehen und liegen lassen, muss Verbrecher bestrafen und Unschuldige retten, neben und über dem Gesetz. Weil einer den Job eben machen muss. Auch dann, wenn der Preis zu hoch erscheint, wenn selbst die engsten Vertrauten nur noch den Kopf schütteln. "Go get them, Tiger!" Auf keinen Satz der Weltgemeinschaft wartet Amerika schon länger, sehnsüchtiger und vergeblicher.

"Spider-Man 2", das ist am Ende auch die Geschichte einer Supermacht, die alles hinschmeißen könnte. Wenn sie nicht endlich, endlich geliebt wird.

SPIDER-MAN, USA 2004 - Regie: Sam Raimi. Buch: Alvin Sargent. Nach dem Comic von Stan Lee und Steve Ditko und der Screenstory von Alfred Gough, Miles Millar, Michael Chabon.Kamera: Bill Pope. Schnitt: Bob Murawski. Mit: Tobey Maguire, Kirsten Dunst, Alfred Molina, James Franco, Rosemary Harris. Columbia, 110 Minuten.

© SZ vom 7.7.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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