Festival:Verausgaben

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Ivo Dimchevs Spezialität ist die schonungslose Selbstausstellung. (Foto: Ivo Dimchev)

26. Tanzwerkstatt Europa: Vom Fett- zum Dauertanz

Von Sabine Leucht, München

"Verausgabung", sagte Doris Uhlich vor einem Jahr, "kann ein Moment sein, in dem die Energie einer Bewegung wichtiger ist als die Form. Das ist etwas, worauf auch mein neues Stück abzielen wird". Nachdem die Österreicherin bei der jüngsten Tanzwerkstatt Europa mit "More Than Naked" ihr München-Debüt feierte, ist jetzt das besagte neue Stück da: "Boom Bodies" ist an diesem Samstag in der Muffathalle zu sehen und hat sich, wenn man den Uraufführung-Kritiken glaubt, noch weiter von der Materialität des Fleisches weg bewegt, die man mit der prächtigen Uhlich-Vokabel "Fetttanztechnik" stets zuerst assoziiert. Seine Energie speist sich aus den immer realer werdenden "Angstträumen" der Gegenwart; und wie in den Vorgängerstücken gibt es darin Technomusik und die Idee vom Körper als "Epizentrum von Aktion und Veränderung".

Das Tanzfestival, das nicht wirklich eines sein will, verlängert zum 26. Mal die Spielzeit bis in den August hinein. Mit Workshops und "choreografischen Labs", die das Herzstück der Tanzwerkstatt Europa bilden, aber auch mit Performances. Und dass man deren Auswahl in diesem Jahr mehr als sonst anmerkt, dass Tanzwerkstatt-Leiter Walter Heun auch dem Tanzquartier Wien vorsteht, ist laut Heun teils Zufall, teils Methode. Einige der sieben eingeladenen Produktionen waren bereits auf dem Wiener Festival Impulstanz zu sehen. (Heun: "Hier keine Überlappung zu haben, ist fast unmöglich.") Und zwei sind vom Tanzquartier kofinanziert worden. Die von Uhlich und die des französischen Tanzphilosophen Noé Soulier, der in "Removing" (2. August) sechs Tänzer mit der Intention und der Energie von Sportbewegungen experimentieren lässt.

Den Münchnern auch nur eine dieser Arbeiten vorzuenthalten, wäre Heun ebenso unsinnig vorgekommen wie das Uraufführungs-"Geschenk" von Laurent Chétouane auszuschlagen. Und ja, auch aus wirtschaftlichen Gründen. Mit Chétouane, der die Stadt, in der er einst als "radikal junger" und radikal minimalistischer Theaterregisseur bekannt wurde, mit einem Solo des schwedischen Tänzers Mikael Marklund ("Je(u)", 3. August) besucht, aber auch mit Wim Vandekeybus' "In Spite of Wishing and Wanting" (27. und 28. Juli) knüpft Heun an (Zusammen-)Arbeiten aus älteren Kontexten an. Auch wenn die wilde Männerhorde auf ihrer Jagd durch die Untiefen von Gewalt und Begehren mit einem brandneuen Cast nach München kommt: Die Symbiose von Tanz, Theater, Film und Musik (von David Byrne) ist choreografisch raffinierter als viele andere Werke des Belgiers und, das Stück entstand 1999, damals noch sehr akrobatisch.

Bis zum Wochenende wird bei der Tanzwerkstatt tatsächlich viel getanzt. Dann wird vermutlich sehr viel nachgedacht - bei einem Symposion über das "Dazwischen". Das Zwischenreich zwischen Performer und Publikum vermessen die provokanten Grenzgänger Ivo Dimchev ("P project", 31. Juli) und Pere Faura ("Striptease" und "Bomberos con grandes mangueras", 29. Juli) rein empirisch: Während der Katalane Faura bei seinem München-Einstand mit den Erwartungshaltungen der Zuschauer spielt, lotet der "hemmungslose Narzisst" ( Die Zeit) aus Bulgarien Schamgrenzen aus und bietet den Zuschauern immer mehr Geld für immer peinlichere Aktionen. In den letzten Tagen der Tanzwerkstatt frönt dann der aktuelle Münchner Tanzförderpreisträger Stefan Dreher 24 Stunden lang seinem Traum vom Tanzen ohne Grenzen, und die Bühne öffnet sich für Workshopteilnehmer und die Choreografen der Zukunft.

Tanzwerkstatt Europa , 27. Juli bis 8. August, Infos unter www.jointadventures.net

© SZ vom 27.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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