Farewell, Clip!:Am Ende

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Clip-Regisseure waren die Avantgardisten der Bildproduktion. Dann sind sie verschwunden. Was für ein gottverdammt trauriger Abschied. Tobias Kniebe

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Als die Ära des Videoclips ernsthaft losging, war diese Erschütterung sogar am Olgaeck in Stuttgart zu spüren.

Das war die Hybris der Form und gleichzeitig die Erkenntnis ihrer Grenzen. (Foto: N/A)

Es muss irgendwann im Jahr 1983 gewesen sein. In den USA war der Clipsender MTV schon seit zwei Jahren auf Sendung, aber soweit reichte unser Horizont natürlich nicht.

Er reichte präzise bis zu Flashdance-Leggins und Riesenmähnen der Vorstadtmädchen in der Disco am Olgaeck, die zu Dan Hartmans "Relight My Fire" jeden Samstag ihre gute Kinderstube vergaßen - das fanden wir aufregend genug.

Eines Nachts aber wurde eine Leinwand herabgelassen und ein steinzeitlicher Beamer angeworfen. Die Musik verstummte, man formte einen andächtigen Halbkreis, und dann lief das "Thriller"-Video von Michael Jackson, mit Johlen und Klatschen und Mädchenquietschen: Jackson mit seinem Date im Kino, Jackson auf einem nebelumwaberten Friedhof, Jackson mit diesem Gesicht, das sich am Ende zu einer Unheil verheißenden Fratze verzerrt. So ging das 14 Minuten lang.

Die Gänsehaut spüren wir bis zum heutigen Tag.

Erst viel später wurde klar, dass in diesem Moment der Videoclip als eigenständige Kunstform geboren wurde. Davor gab es vor allem billige Effekte, die üblicherweise mit der Geburt eines Mediums einhergehen: dicke Autos, schrille Klamotten und Mädchen in Bikinis. Die Farben waren pastell, der Verbrauch an Haarspray gewaltig - aber alles in allem erinnern die Videos der frühen Achtzigerjahre doch stark an die Videos der Gegenwart. Heute heißt die Musik zwar Hiphop beziehungsweise Eurodance, die Farben sind nicht pastell und die Frisuren nicht so raumgreifend - aber die dicken Autos sind wieder da, die schrillen Klamotten auch, und erst recht die Mädchen in Bikinis.

Was das bedeutet, wird nun langsam klar: Ein Kreis ist dabei, sich zu schließen, ein Zyklus geht auf sein Ende zu. Die Zeichen deuten auf ein baldiges Ableben des Mediums Videoclip. Als vorläufigen Schlusspunkt werten wir die Ankündigung des Senders Viva, in der Hauptsendezeit statt Clips nun Wiederholungen alter "Big Brother"-Folgen zu zeigen.

Mal ehrlich: Welche Schmach! Welch gottverdammt trauriges Ende für eine Kunstform, in der einst die neue Grammatik des Sehens geschrieben wurde, in der selbst die strenge Sekte der Experimentalfilmer einen kurzen Sommer der Popularität erlebte. Stellt man sich die Erfindung neuer Bildwelten als einen Wettbewerb vor, in den sowohl Kino wie Werbung Millionen investieren, dann war die Musikindustrie zunächst Außenseiter - eine Branche, der es auf dem eigenen Terrain ein bisschen zu gut ging, weshalb sie nach Expansion strebte.

Ähnlich den Kosmetikgiganten, die in der Frühzeit des Fernsehens das Sponsoring erfanden und damit der Seifenoper ihren Namen gaben, suchte und fand die Musikindustrie einen visuellen Werbekanal. Der hieß MTV und funktionierte besser als alle Erwartungen, und die Plattenbosse reagierten schnell: Plötzlich standen für Videoclips jene Summen bereit, über die sonst nur Blockbuster-Regisseure oder Autowerber verfügen dürfen.

Mit dem allerdings unschätzbaren Vorteil, dass ansonsten die Erfahrung fehlte: Es gab keine Dogmen und keine Regeln, keine lange Planung und keine vorsichtigen Komitee-Entscheidungen - und im Zuge dieser Befreiung hat der Videoclip im Handumdrehen die Führungsrolle in der Welt der Bilder übernommen.

Danach war es eigentlich normal, dass man beim Zappen immer wieder auf Videos stieß, die einem die Augen übergehen ließen: Die frühen Arbeiten von Mary Lambert, die auf einen Spezialeffekt namens "Madonna" vertrauen konnten; die beiläufigen Auftritte der teuersten Supermodels, etwa bei George Michael oder Chris Isaak; oder die ersten Gehversuche künftiger Stars wie Liv Tyler, die für Aerosmith aus einem Internat ausbrach - immer hatte man das Gefühl, an der vordersten Front der Bildproduktion dabei zu sein. Genauso wirkten, eine Ecke anspruchsvoller, die düsteren Surrealismen von Chris Cunningham (Leftfield, Aphex Twin), die visuellen Extravanganzen von Michel Gondry (Björk, Chemical Brothers) oder der unnachahmliche Lo-Fi-Humor aus dem Skater-Universum von Spike Jonze (Beastie Boys, Fatboy Slim).

Das Gefühl, dass man die frischesten Bilder der Welt im Musikfernsehen sehen konnte, lang bevor sie den Weg ins Kino oder in die Werbung fanden, wurde etwas Alltägliches - so alltäglich, dass wir den schleichenden Niedergang fast verpasst hätten. Wo waren sie in der letzten Zeit, die Cunnighams, Gondrys, Jonzes? Vermutlich haben sie der Musikindustrie still und leise den Rücken gekehrt - einer Industrie, die gerade von schnellen DSL-Leitungen ausgesaugt wird, in hässliche "Raubkopierer sind Verbrecher"-Kampagnen verwickelt ist und wohl allen Charme als lässiger Auftraggeber eingebüßt hat.

So erinnert man sich nun, das Ende vor Augen, an das letzte Video, das an frühere Glorie denken ließ, das noch einmal alte Größe heraufbeschwor. Es war "Hurt" von Johnny Cash, inszeniert von Mark Romanek. Es hat nicht zufällig den Grammy 2004 für die beste Videoproduktion gewonnen, und es stammt nicht zufällig von einer der zentralen Figuren der Branche. Mark Romanek war der Mann, der sich mit Michael und Janet Jackson auf einen Irrsinn namens "Scream" einließ und damit im Jahr 1996 das teuerste Video aller Zeiten schuf, mit Kosten von mehr als sieben Millionen Dollar.

Das war die Hybris der Form und gleichzeitig die Erkenntnis ihrer Grenzen.

Bei "Hurt" dagegen hatte er kaum noch Geld - dafür aber die wunderbar verwitterten Gesichter von Johnny Cash und June Carter Cash, einen wunderbar kaputten Song von Trent Reznor, ein kaputtes Johnny-Cash-Museum, ein paar alte Filmausschnitte und jenes goldene Licht, das ein Leben kurz vor dem Sonnenuntergang überstrahlt.

Daraus schuf Romanek ein Meisterwerk der Vanitas, einen Abgesang nicht nur auf den Titanen Cash, sondern gleichzeitig auf seine eigene Kunstform. Sollten wir "Hurt" in Zukunft noch einmal sehen, eingezwängt zwischen zwei Big-BrotherWiederholungen, werden wir uns an eine Gänsehaut erinnern - und an eine große Zeit.

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