Fantasy:Tiere in Flaschen

Lesezeit: 2 min

Der Brite China Miéville ist nicht nur akademisch und politisch sehr aktiv, er schreibt auch noch Romane und Comics. In seinem neuen Roman "Dieser Volkszähler" treibt er das literarische Verfahren des Weglassens auf die Spitze.

Von Nicolas Freund

Oft ist das, was nicht erzählt wird, genauso oder noch wichtiger als das, was erzählt wird. Es gehört zum ästhetischen Prinzip vieler Romane, dass der Erzähler nicht alles, nicht immer die Wahrheit und oft nicht einmal die Ereignisse, wie sie sich zugetragen haben, zweifelsfrei wiedergibt. In anderen Romanen ist das, was erzählt wird, nur die Spitze oder ein Schnitt durch eine Reihe von Ereignissen oder gleich durch eine ganze Welt. Eine erzählte Welt, die unvollständig erscheint, wirkt nicht nur lebendiger und glaubwürdiger, sie bindet auch den Leser, der sich selbst etwas vorstellen muss, in den Erzählprozess mit ein. Und sie lässt Raum für Fortsetzungen.

Der englische Fantasy- und Science-Fiction-Autor China Miéville hat nun mit seinem neuen Roman "Dieser Volkszähler" das Erzählprinzip des Weglassens auf die Spitze getrieben. Miévilles umfangreiches Werk lässt sich nicht leicht kategorisieren, genauso wenig wie der Autor selbst, der in Cambridge und Harvard studiert hat, Bodybuilder ist, einen Doktortitel von der London School of Economics trägt, ein marxistisches Magazin herausgibt, als linker Politiker aktiv ist und nebenbei noch schreibt. In seinen Romanen, Comics und Kurzgeschichten mischt er Science-Fiction und Fantasy, der Surrealismus, politische Theorie und historische Ereignisse sind bei ihm gleichwertige Inspirationsquellen für das Erschaffen fantastischer Welten, die zugleich vertraut und geheimnisvoll wirken. Miéville lesen ist, als ob man sich vorstelle, wie ein fremdartiges Tier die Welt sehen könnte.

Miévilles Bilder folgen der Logik eines halbvergessenen Traums

"Dieser Volkszähler" ist am ehesten eine fantastische Kriminalgeschichte, obwohl die Erzählung weder zum Fantasy-Roman noch zum Krimi taugt. In einer unbestimmten Zukunft sind Nahrung, Technologie und Ressourcen so knapp, dass die Menschen wieder in mittelalterlichen Gemeinden zusammenleben und die Fledermäuse unter steinernen Brücken hervorfischen, um sie zu essen. Eidechsen und andere Tiere werden in Glasflaschen großgezogen, ob als Vorrat oder zur grausamen Unterhaltung, bleibt offen. Manche halten sich Hühner, nach Größe sortiert, in ihrem Wohnhaus. Viele Menschen wollen geheimnisvolle Gegenstände haben, die Schlüssel genannt werden, und lassen sich diese herstellen, der Erzähler weiß aber nicht, wozu sie eigentlich gut sind. Miévilles Bilder folgen der Logik eines halbvergessenen Traums, der nicht mehr auf eine rekonstruierbare Logik zurückführbar ist.

Der Erzähler, der von sich selbst in allen drei grammatikalischen Personen berichtet, blickt aus einer vagen, stilisierten Büroarbeitswelt zurück auf seine Kindheit in dieser surrealen Postapokalypse. Die Mutter ist verschwunden, und weil der Junge den Vater, einen Schlüsselmacher, oft beim Töten von Tieren beobachtet hat, verdächtigt er ihn, die Mutter ermordet und die Leiche in einem scheinbar bodenlosen Loch in den Bergen entsorgt zu haben.

Der Roman verweigert sich aber der Kriminalhandlung, die er anreißt, und seine Anspielungen sind Selbstzweck oder zu vage gehalten, um mehr als das zu sein. Sollen die Kernfamilie und der titelgebende Volkszähler vielleicht auf die Weihnachtsgeschichte verweisen? Zu Miévilles postmodernem Zitat- und Verweiszirkus würde das passen. Gibt es ein Schloss zu diesen Schlüsseln und handelt es sich bei den Gegenständen, die wohl geschliffen werden müssen, überhaupt um Schlüssel, wie wir sie kennen? Mit letzter Sicherheit wird keine der vielen aufgeworfenen Fragen beantwortet. Hier wäre es nötig gewesen, etwas mehr zu erzählen, denn was diesem kurzen Roman fehlt, ist fast alles und das macht ihn beliebig. "Dieser Volkszähler" könnte in seiner undurchdringlichen Rätselhaftigkeit den Leser zum Assoziieren herausfordern und auf Spurensuche schicken, da er kaum Anhaltspunkte gibt, lässt er ihn aber nur gleichgültig und ratlos zurück.

China Miévill e: Dieser Volkszähler. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind Verlag, München 2017. 173 Seiten. 18 Euro. E-Book 13,99 Euro.

© SZ vom 30.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: