Event-Musical:Alle für einen

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Mehr als 2000 Laien-Sänger und professionelle Musiker erinnern in der Olympiahalle an den großen Reformator. Beim Pop-Oratorium "Luther" zählt vorrangig eines: das Zugehörigkeitsgefühl

Von Sophie garbe

Pommes-Geruch, Schlangen vor den Toiletten, Geschnatter und Gedränge - all das kennt man von Veranstaltungen in der Olympiahalle. Die Nonne jedoch, die auf Ebene vier den Gang entlangschlendert, ist ein ungewöhnlicher Anblick. Überhaupt ist die Atmosphäre an diesem Samstag anders als sonst. Auf den Leinwänden in der Halle laufen statt der üblichen Würstchenwerbung Anzeigen für Bibel-Apps, Gospelkonzerte und ein Luther-Gewinnspiel. In den Gängen begegnet man Rentnern mit Spazierstock ebenso wie Gruppen giggelnder Teenager. Zwischendurch hasten immer wieder Menschen in weißen Oberteilen und roten Namensschildern vorbei.

Auch Bernhard hat zur Feier des Tages ein weißes Hemd an, die Enden seines grauen Schnurrbarts sind akkurat gezwirbelt. Ganz entspannt lehnt er am Treppengeländer und kaut an einem belegten Brot. Er erzählt, dass er jahrelang in Chören gesungen hat, diese Leidenschaft aber aufgrund seiner Schichtdienste aufgeben musste. Fast 20 Jahre ist das her. Heute steht er in der Olympiahalle das erste Mal wieder mit einer Gruppe von Sängern auf der Bühne, für ihn "ein grandioses Erlebnis". Aufgeregt? "Nee, man ist ja bloß einer von vielen."

Einer von 2069, um genau zu sein. So viele Sänger haben sich in München zum Chor für das Pop-Oratorium "Luther" zusammengefunden. Es ist ein echtes Großprojekt, das sich der Komponist Dieter Falk gemeinsam mit dem Librettisten Michael Kunze überlegt hat. "Der Chor steht im Mittelpunkt", betont Falk. Der Hauptakteur sind hier also die vielen. Dabei ist eine ziemlich wilde Mischung entstanden. Erst fünf Jahre alt ist das jüngste Chormitglied, 87 das älteste. Aus Bayreuth, Augsburg und vom Ammersee sind sie angereist, manche mit ihren Chören, andere mit Freunden oder alleine. Die 17-jährige Katharina erzählt, dass bei ihr von der Oma bis hin zur kleinen Schwester die ganze Familie mitsingt. Eine große Gemeinsamkeit gibt es aber: Fast alle von ihnen fühlen sich der Kirche irgendwie verbunden. Eine Diakonin ist dabei, viele mit Kirchenchor-Erfahrung, einige sind mit dem Chor des Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM) gekommen, andere mit der Kirchenjugend. Bernhard wiederum ist katholisch, dennoch fasziniert ihn die "Lockerheit der protestantischen Kirche". Und auch Thomas, der mit seinem weißem Rauschebart gut den Weihnachtsmann geben könnte, fühlt sich als Leiter eines Kirchenchors dem Inhalt des Pop-Oratoriums nahe. Wenn er beginnt, über die bevorstehende Aufführung zu reden, strahlt sein Gesicht. 18 seiner Chormitglieder machen mit. Angereist sind sie direkt mit 50 Mann im Tourbus. "Wir kommen aus einem 300-Einwohner-Dorf. Für uns ist das heute ein einmaliges Erlebnis."

Die Vorstellung ist ausverkauft, mehr als 10 000 Besucher verteilen sich in der Halle. Einige Chormitglieder winken wild, um Verwandte auf sich aufmerksam zu machen, andere nutzen die Gunst der Stunde, um noch ein Foto von sich vor der Bühne zu schießen. Dann werden die Nebelmaschinen angeworfen, und das Licht gedimmt. Es geht los. Auf einer durchsichtigen Leinwand erscheint Luthers Name in leuchtenden Buchstaben. Dahinter erhebt sich auf den Rängen der Chor. Eine weiße Wand aus Menschen, die den musikalischen Rahmen zu der Geschichte von Luthers Anhörung vor dem Reichstag bildet. Frank Winkels, der Luther spielt, beschreibt bereits vor der Aufführung seine Erfahrung mit einem so großen Chor als "unglaubliche Energie", die ihn erfasst. "Da kriegt man schon Gänsehaut."

Und auch auf Zuschauerseite sind Klang und Anblick imposant. Auf den Bildschirmen laufen während der Vorstellung die Texte zum Mitsingen. Eine Aufforderung, der das Publikum gegen Ende beim Best-of-Medley nachkommt. Alle erheben sich, singen und klatschen mit. Im Chor sieht man Thomas an vorderster Front lachen und mitwippen.

Hinterher gehen die Meinungen auseinander. "Etwas Harmonischeres" hatte sich ein älterer Herr vorgestellt. "Nicht so ganz meine Musik", heißt es aus der jüngeren Riege. Aber es ist auch Begeisterung zu hören. "Das war einzigartig, Luthers Geschichte mal modern verpackt", sagt eine Zuhörerin. Und ein anderer spricht von "Stimmengewalt" und einem "enormen Zugehörigkeitsgefühl". Tatsächlich wirkt die Menge, die nach der Vorstellung in die Nacht hinausströmt, ein wenig wie eine eingeschworene Gruppe. Zwei Studenten fachsimpeln über Luther, eine Frau stimmt noch einmal den Titelsong an.

In der U-Bahn-Station dann die Durchsage: "Achtung, das Licht am Ende des Tunnels ist nur die U-Bahn."

© SZ vom 20.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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