Evangelikale Gruppen:"Du bist dermaßen erlebbar, Jesus!"

Viele Jugendliche suchen ihr Heil in evangelikalen Gruppen. Hinter der betont lockeren Hülle der Alternativkirchen steckt jedoch oft ein fundamentalistischer Kern.

Laura Weißmüller

Wer mit Gott reden will, muss früh aufstehen. Selbst der Viktualienmarkt in München ist noch nicht fertig aufgebaut, da treffen sich schon sieben Mitglieder der freikirchlichen Gemeinschaft "International Christian Fellowship" (ICF), um miteinander zu beten.

Wer sich da um sieben Uhr morgens in einem Coffeeshop zum "Input" versammelt, entspricht ganz und gar nicht dem Klischee des übereifrigen Christen: Statt Birkenstock und Strickjacke tragen die jungen Frauen Ballerinas, enge Blusen und schicke Sonnenbrillen, bevor sie die Spuren Gottes in ihrem Alltag feiern, plaudern sie gut gelaunt über die Party am letzten Abend.

Vor dem Gebet wird gebruncht

Auch die sonntäglichen "Celebrations" von ICF passen zu den jungen Gläubigen: Vor dem Gebet wird gebruncht, der Gottesdienst im Kinosaal erinnert an ein Rockkonzert, und der Prediger Tobias Teichen könnte mit seiner Wortwahl und den Slapstickeinlagen als religiöser Oliver Pocher durchgehen.

Er will zeigen "wie Gott tickt", erzählt von Erlebnissen aus dem Alltag eines jungen Ehepaares. Seinen "megamäßigen Spaß" mit Gott illustriert er an diesem Sonntag in München mit Comiczeichnungen und unzähligen Ausrufezeichen: "Du bist dermaßen erlebbar, Jesus!" Das scheinen auch die 60 Gläubigen zwischen 20 und 35 Jahren zu spüren: Viele haben ihre Augen geschlossen, auf ihren Gesichtern liegt ein seliges Lächeln, und zahlreiche Hände wandern immer wieder nach oben.

Junge Fassade, alter Kern

"Das jugendliche Auftreten dieser Gruppen ist ein Werbemittel", erklärt Hermann Probst. Der evangelische Hochschulpfarrer der Technischen Universität München (TUM) hat Erfahrung mit der stark wachsenden Anzahl von freikirchlichen Gemeinden, die gezielt junge Gläubige ansprechen - er ist einer der wenigen Vertreter der großen Landeskirchen, die auf den Dialog mit diesen Gruppen setzen.

Die von ihm geleitete christliche Hochschulinitiative "Chips" organisiert regelmäßig Veranstaltungen mit ihnen, auch wenn Probst deren Referenten manchmal wieder ausladen muss, weil sie zu extreme Glaubenspositionen vertreten.

Denn der ersten Eindruck dieser evangelikalen Gruppierungen trügt: Mögen Homepages mit Videoclips in MTV-Ästhetik, Ansagen wie "Online mit Gott" oder Predigten als Podcasts zum Herunterladen eine moderne Form des Glaubens suggerieren, die hier vertretenen Inhalte sind meist umso konservativer, zum Teil sogar fundamentalistisch.

Massive Proteste gegen Seminar über Homosexualität

Denn wer die Bibel wörtlich nimmt, hat für Abtreibung oder Homosexualität kein Verständnis. Das zeigte etwa das geplante Kursangebot des evangelikalen Jungchristenkongresses "Christival": Dort standen die Seminare "Sex ist Gottes Idee - Abtreibung auch?" und "Homosexualität verstehen - Chancen zur Veränderung" auf dem Programm. Nur aufgrund massiver Proteste fand das Seminar über Homosexualität nicht statt.

Auch bei ICF handelt es sich nach der Einschätzung von Axel Seegers, dem Leiter des Fachbereichs Sekten- und Weltanschauungsfragen der Erzdiözese München und Freising, um "eine christliche Gemeinde, die zwar jugendlich-frisch daherkommt, aber bibelfundamentalistisch ist".

Was für Außenstehende wie ein eklatanter Widerspruch wirkt, ist für die Gläubigen nur logisch: "Gott würde nicht wollen, dass wir 20 oder 50 Jahre hinterher sind", meint Daniel Dehm von ICF beim morgendlichen "Input".

Einfache Antworten in einer unübersichtlichen Zeit

Etwa 40 freikirchliche Gemeinden gibt es allein in und um München, gerade junge Erwachsene fühlen sich von derem lässigen Auftreten angesprochen.

Ob "Jesus Freaks", "Jesus Revolution" oder die Internetplattform jesusgeneration.de - die Auswahl ist beträchtlich. Und sie wird angenommen: "Zulauf haben diese Gruppen deshalb, weil sie in einer unübersichtlich gewordenen Zeit einfache Antworten bieten können.

"Du bist dermaßen erlebbar, Jesus!"

Sie besitzen ein voraufklärerisches, dualistisches Weltbild", erklärt Michael Seitlinger, der die Seelsorge an der TUM betreut. Der katholische Hochschulpfarrer steht im Gegensatz zu seinem evangelischen Kollegen den Gruppen skeptisch gegenüber.

Er kritisiert ihr strenges Regelwerk mit den holzschnittartigen Maßstäben: "Die Erlösten und die Nichterlösten sind bei ihnen klar definiert. Ebenso, was man machen muss, um zu den Erlösten zu gehören, steht genau fest."

Wenn die Freiheit zur Belastung wird

Aber gerade diese klaren Orientierungshilfen sind für manche Jugendliche heute so verlockend. "Es gibt Leute, für die wird die Freiheit zur Belastung und sie entscheiden sich deswegen für die Flucht in solche Gemeinschaften, die ihnen Sicherheit und einfache Strukturen bieten", meint der Sektenbeauftragte Seegers.

Die zunehmende Bindung der Jugendlichen an solche Gemeinschaften sei zunächst ein "ganz normaler gruppendynamischer Prozess". Gefährlich werde es erst, wenn man sich von seinem früheren Umfeld abspalte. Dann kann es in Krisenzeiten wie etwa einer ungewollten Schwangerschaft passieren, dass man plötzlich ganz auf sich alleine gestellt ist, erklärt Seegers: "Ich kann aus einer solch engen Gemeinschaft nicht einfach austreten - ich muss aussteigen."

Moderner Anspruch an den Glauben

Mit dem Vorwurf, eine Sekte zu sein, gehen die Gründer von ICF gelassen um, werden sie doch regelmäßig damit konfrontiert: "Das ist eine gewisse Hilflosigkeit. Für Viele gibt es nichts anderes als die zwei großen Kirchen", meint Tobias Teichen, der lange in der katholischen Jugendarbeit tätig war.

Er begründet sein freikirchliches Engagement mit einem modernen Anspruch an den Glauben: "Wir haben uns gefragt, wie Kirche sein müsste, damit sie Menschen anspricht", erzählt der 31-jährige Pastor und zieht eine Parallele zu Martin Luther.

Auch der Reformator habe seine Predigten in Mundart verfasst, mit dem Buchdruck die modernste Kommunikationsform seiner Zeit gewählt und Kirchenlieder auf die Melodie von Trinklieder getextet.

Wunsch nach Spiritualität

Etwa 500 Jahre später hat der studierte Theologe Teichen mit diesem Ansatz ebenfalls Erfolg: Seit der Gründung vor vier Jahren haben sich die Mitgliederzahlen von ICF in München verfünffacht.

Auch wenn die Gemeinde mit 150 Aktiven zahlenmäßig damit immer noch nicht an die Größe einer kleineren katholischen Pfarrgemeinde heranreicht, bestätigt ihr Zulauf doch die Ergebnisse der "Sinus-Milieustudie U27".

Die Studie sollte im Auftrag des Bunds der Deutschen Katholischen Jugend und Misereor herausfinden, "wie Jugendliche ticken" und präsentiert jetzt den Amtskirchen ein ernüchterndes Resultat: Bei den 14 bis 27-Jährigen ist zwar der Wunsch nach Spiritualität und die Suche nach dem Sinn im Leben stärker denn je, wenige fühlen sich dabei jedoch von den großen Kirchen angesprochen.

SMS vom Papst

Vier der sieben beschriebenen Milieus haben nur sporadisch oder überhaupt keinen Kontakt mit den Kirchen. Für sie gelten die religiösen Institutionen als langweilig und uncool.

Auf den Bedeutungsverlust bei den jungen Gläubigen versuchen nun die Kirchen möglichst modern zu reagieren: Der Berliner BDKJ veranstaltet Trendscout-Treffen und selbst der Papst gibt sich jugendlich: Zum Weltjugendtag in Sydney will er Mitte Juli an alle Teilnehmer eine SMS verschicken.

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