Essays:Plumpes Ding mit Nabel

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Raoul Schrott versucht, Politik und Migration kulturhistorisch zu erklären. Leider kommt es dabei zu einigen Kurzschlüssen.

Von Nicolas Freund

Was in der aktuellen Debatte über nationale Identitäten und den Begriff der Heimat derzeit falsch läuft, lässt sich gut am Beispiel der Tomate zeigen. Der österreichische Schriftsteller, Übersetzer und Abenteurer Raoul Schrott beschreibt das beliebte Nachtschattengewächs in seinem Essayband "Politiken & Ideen" als paradigmatisch für den kulturellen Transfer, der alles uns Bekannte definiert und zugleich ständig verändert. Die Tomate illustriere "die verschiedensten evolutionären Stammlinien, die bis zu uns und in unsere Zeit hinein reichen". Wollte sich etwa jemand auf die Tomate als typisch deutsch, österreichisch oder auch nur europäisch berufen, würde er hier ganz schnell wieder auf die richtige Spur gebracht werden.

In der heute in Deutschland für die ursprünglich südamerikanische Frucht gebräuchlichen Bezeichnung schwinge nämlich noch das aztekische "Xitomatl" mit, was so viel wie "plumpes Ding mit Nabel" bedeute. Im österreichischen "Paradeiser" hingegen offenbare sich eine völlig andere kulturelle Entwicklungslinie. Dieser Name sei durch bildliche Darstellungen des Sündenfalls geprägt, in denen die verführerische Frucht stets als roter Apfel dargestellt worden sei. Das legte, nicht zuletzt aus "kommerziellen Interessen", die Vermarktung als "Paradiesapfel" nahe. Von hier aus kann man die Wortgenese bis zu altpersischen Lustgärten verfolgen, die ebenfalls "Paradies" genannt worden sein sollen. Das alles nur als Kostprobe für die Tiefen, in die Schrott in diesem Buch vordringt, und die an so fruchtbaren Objekten wie der Tomate jene amorphen "Rahmenbedingungen von Kultur zum Vorschein kommen" lassen, die derzeit in vielen Debatten zu scheinbar eindeutigen Fakten geronnen als identitätsstiftende Kronzeugen herhalten müssen.

So verdienstvoll und interessant diese Ausführungen sind - die aktuellen Debatten um das Was und Warum nationaler Identitäten werden nicht anhand der Kulturgeschichte der Tomate ausgetragen. Schrott tarnt sein Buch als eine Spurensuche kultureller Einflussnahmen auf die Politik, obwohl er eigentlich ein Eingreifbuch in die offenbar in seinen Augen nicht mit den rechten Instrumenten geführte Debatte über Identität und Heimat geschrieben hat. Dabei reicht es nicht, nur Wissen zu sammeln und wie Geschütze aufzufahren. Eine Auseinandersetzung mit populistischen und neurechten Thesen erfordert einen Registerwechsel, der Schrott nicht gelingt.

Denn indem er zeigen möchte, dass Identität ein kulturelles und noch dazu ein sehr vielen Variablen unterworfenes Konstrukt ist, begibt er sich selbst in eine Rechtfertigungsrolle. So schreibt er über die Herkunft von Flüchtlingen: "Die Schrift, die wir benutzen, erhielten wir (...) aus jenem Raum, von dessen Flüchtlingen sich nun ganz Europa abschotten möchte (...). Ihnen verdanken wir nicht nur die erste moderne Zivilisation samt Städtegründung, Kanalisation, verkehrstechnischer Infrastruktur und einem bis heute grundlegenden Recht, sondern auch die staatstragend apostrophierte Religion". Abgesehen davon, dass sich nicht alle Flüchtlinge so zusammenlegen lassen - mindestens für Zentralafrikaner müssten, wenn man denn so argumentieren möchte, völlig andere Prämissen gelten -, sucht Schrott damit nach einem irgendwie diffus kulturhistorischen Rechtfertigungsgrund für die Aufnahme von Flüchtlingen. Damit begibt er sich, wenn auch mit positiven Vorzeichen, auf die argumentative Ebene all der neurechten Nationalisten, die am liebsten alle Menschen nach mehr oder weniger willkürlichen kulturellen bis biologistischen Maßstäben in miteinander nicht zu vereinbarende Völker einteilen möchten. Er verleiht den rechten Vorwürfen an die deutsche Flüchtlingspolitik Gewicht, indem er sich auf sie einlässt.

"Als Primaten waren wir darauf angewiesen, unser Territorium zu verteidigen."

Mit Argumenten aus der Genetik versucht er zwar, den Begriff des Volkes zu entschärfen - denn wir stammen ja alle vom selben Homo erectus ab, und überhaupt ist unser Erbgut zu 99 Prozent mit dem eines Schimpansen identisch -, fällt damit aber selbst in krude Argumentationsmuster, die Menschen Rechte aufgrund biologischer Tatsachen zusprechen möchten. Tatsachen, die noch dazu irreführend in die Debatte eingebracht werden, denn die vom beinahe identischen Erbgut suggerierte Nähe zum Schimpansen ist im Kontext der Debatte, in die sich Schrott einschaltet, völlig irrelevant. Das Argument vom ähnlichen Erbgut ließe sich beliebig verfeinern, von wo aus es dann nicht mehr weit ist zu dem rassischen Denken, das Schrott aber gerade abzulegen versucht.

Auch die Fremdenfeindlichkeit versucht er evolutionär zu erklären: "Als Primaten waren wir darauf angewiesen, unser Territorium zu verteidigen", heißt es da. Trotz des zu 99 Prozent identischen Erbguts möchte man dem ganz einfach entgegenhalten, dass wir aber zum Glück keine Primaten mehr sind. Auch hier geht das Problem einer oft Trugschlüssen aufgesessenen Argumentation aber tiefer: Schrott versucht zu erklären, dass in möglichst großen Kooperationen, im Gegensatz zu Abschottungen, nicht zuletzt wirtschaftlicher Nutzen steckt. "Migration befördert also das Wirtschaftswachstum." Der Fehler liegt schon im Ansatz: Migration kann und darf nicht Objekt einer Kosten-Nutzen-Rechnung sein.

Das Problem in allen vier in dem Band versammelten Essays ist, dass Schrott oft unkritisch jeder sich bietenden Metaphern- und Assoziationskette folgt. Zur Religion als staatsstiftender Identität schreibt er, dass "das Kalifat des IS, der Iran oder Israel nicht aufhören, auf jeweils eigene Weise vorzuführen, dass Glaube kein Fundament für ein funktionierendes Staatsgebilde ist". Abgesehen davon, dass alle diese drei "Staatsgebilde" auf ihre Weise sehr wohl funktionieren oder funktioniert haben, sind sie kaum, wie es Schrott hier tut, in eine Reihe zu stellen. Dieses Buch hätte eine größere Bereitschaft zur Selbstkritik auf Seiten des Autors und ein strengeres Lektorat auf Seiten des Verlags nötig gehabt.

Raoul Schrott: Politiken & Ideen. Vier Essays. Carl Hanser Verlag, München 2018. 254 Seiten, 23 Euro. E-Book 16,99 Euro.

© SZ vom 13.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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