Erste Cannes-Splitter:Selbst die Gewerkschaft trägt Smoking

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Wer auf dem roten Teppich von Cannes steht, hat sein Lächeln gründlich einstudiert. Und was er tun musste, um dorthin zu kommen, geht niemanden etwas an. 650 Millionen diskrete Euro Umsatz macht die Stadt Cannes Jahr für Jahr mit dem wohl wichtigsten Chichi der Filmindustrie.

TOBIAS KNIEBE

Natürlich geht es um Macht, Aufmerksamkeit, Prestige und Geld. Natürlich werden verlockende Angebote gemacht, Drohungen in Stellung gebracht, auch Erpressung dürfte ein beliebtes Mittel sein.

Die Gewerkschafter versprechen, sich zu benehmen. Im Gegenzug dürfen zwölf von ihnen, vor den Augen der Weltöffentlichkeit, im Smoking über den roten Teppich marschieren (Foto: Foto: AP)

Genauso stellt man sich das vor, wenn man davon träumt, einmal hinter die Kulissen von Cannes zu blicken. Meist aber hält die glitzernde Fassade. Wer die Stufen zum Palais erklimmt, hat sein Lächeln gründlich einstudiert, und was er tun musste, um dorthin zu kommen, geht niemanden etwas an.

Nur die "Intermittents", die unentbehrlichen Zeitarbeiter des französischen Kulturbetriebs, haben sich in diesem Jahr nicht an die Spielregeln gehalten: Seit einem Jahr streiken sie für mehr soziale Sicherheit, andere Festivals haben sie bereits platzen lassen - auch das Festival du Film, so drohten sie, werde ihre Macht zu spüren bekommen.

Hier aber kennt man das Spiel, hier verhandelt man geschickter als anderswo - und deshalb sieht es so aus, als sei die Sache inzwischen à la Cannes geregelt worden: Die Gewerkschafter versprechen, sich zu benehmen. Im Gegenzug dürfen zwölf von ihnen, vor den Augen der Weltöffentlichkeit, am Mittwochabend im Smoking über den roten Teppich marschieren - jeder mit einen Buchstaben des Worts Négociations (Verhandlungen) auf dem Rücken.

Am Tag vor Beginn des Festivals, an dem sich die Cote d'Azur teilweise bedeckt und überraschend kühl präsentierte, gab es auch eine Gegendemonstration.

Gegen Mittag zogen mehrere tausend Einheimische die Rue d'Antibes hinab, angeführt vom Bürgermeister.

Macht unser Festival nicht kaputt, lautete ihre Warnung an alle externen Störenfriede.

650 Millionen Umsatz garantierten die Filmfestspiele in der Stadt, hieß es, 12000 Jobs könnten gefährdet sein, wenn nicht alles reibungslos über die Bühne gehe.

Sollten tatsächlich noch fremde Blockierer nach Cannes einsickern, werden die Anwohner Gegenmaßnahmen ergreifen - diese Botschaft ist klar. Uniformierte der Nationalpolizei "Compagnies Républicaines de Sécurité" (CRS), die historisch schon manchen Generalstreik niedergeschlagen haben und auch seinerzeit in Algerien für Ordnung sorgen sollten, ließen ebenfalls keinen Zweifel daran, dass die Show unbedingt weitergehen muss - selbst wenn nicht alles friedlich geregelt werden kann. Ein Festival kündigt sich an, das in jeder Hinsicht spannend bleibt.

Verlockende Angebote, Drohungen, Machtspiele hinter den Kulissen - darum geht es auch im spanischen Eröffnungsfilm "La Mala Educación (Schlechte Erziehung)".

Der ehemalige Klosterschüler Pedro Almodóvar erzählt hier vom Kindesmissbrauch an einer Klosterschule, aber am Ende ist das nicht wirklich entscheidend. Wer eine Abrechnung mit der Kirche erwartet hatte, sah sich jedenfalls auf spannende Weise getäuscht: Religion spielt keine Rolle für Almodóvar, nicht einmal als Gegner nimmt er sie wirklich ernst.

Die traumatischen Erlebnisse des Schülers Ignacio, dessen glockenhelle Stimme im Knabenchor erklingt und der zur Gitarre des Padre Manolo auch gerne mal eine steinerweichende Version von "Moon River" zum Besten gibt, sind eher der Keim eines vertrackten film noir voller unerwarteter Wendungen.

Schon bald wird sich der zarte und unverschämt feminine Knabe nämlich seiner sexuellen Macht bewusst. Der erste Übergriff des Padre hat so fast den Charakter eines Deals - und fünfzehn Jahre später, als das Opfer zum Erpresser wird, sind die Fronten endgültig verschoben.

Diese Zweideutigkeit bei einem Thema, das eigentlich eindeutige Positionen verlangt, ist nicht ohne Risiko - aber eben typisch Almodóvar, der nie mit naheliegenden Lösungen langweilt.

Hier interessiert er sich vor allem für die künstlerischen und biografischen Transformationen, die diese Kindheitsgeschichte durchläuft: Zum Zweck der Erpressung niedergeschrieben, gerät sie bald in fremde Hände und von dort auf den Nachttisch eines jungen schwulen Regisseurs, der erkennbar zur Movida gehört, jenem künstlerischen Aufbruch im Madrid Ende der Siebziger Jahre, aus dem auch Almodóvar selber stammt.

Während der Regisseur noch das Manuskript liest, sieht man bereits den Film, den er später daraus machen wird. Die Hauptrolle darin spielt Angel (Gael García Bernal) - ein junger Mann, der behauptet, jener missbrauchte Ignacio zu sein, nun aber eine neue Identität gefunden zu haben. Bald ist klar, dass dies nicht stimmen kann - aber da ist das Spiel schon zu weit fortgeschritten, jetzt kann keiner mehr zurück.

Almodóvar, der Kenner und Beobachter sexueller Obsessionen, hat diese komplexe und sehr schwule Männergeschichte perfekt im Griff. Nur zu einem Meisterwerk wie "Alles über meine Mutter" reicht es diesmal nicht - dafür fehlt die leidenschaftliche Wärme, die er seinen großen Frauenfiguren verleihen kann.

Hinter den Kulissen habe Almodóvar gebeten, diesmal nicht im Wettbewerb zu laufen, heißt es - zu groß sei sonst sein Ehrgeiz, auch zu gewinnen. Wer noch in Erinnerung hat, wie sichtbar enttäuscht er 1999 in Cannes seinen Regiepreis entgegennahm, während die Goldene Palme an den Überraschungssieger "Rosetta" ging, wird diese Geschichte sofort glauben.

Ansonsten ist um die Kandidaten für die Goldene Palme, zu denen mit Hans Weingartners "Die fetten Jahre sind vorbei" auch endlich wieder ein deutscher Film gehört, sicher mit aller Macht gerungen worden. Ob dabei verlockende Angebote gemacht, Drohungen, vielleicht sogar Erpressung im Spiel waren - man wird es nie erfahren.

Klar ist nur, dass zum Beispiel Walter Salles' Che-Guevara-Roadmovie "Diarios de Motocicleta" in letzter Sekunde aus dem Programm der Berlinale verschwand, um nun hier an der Croisette zu laufen. Wer die Stufen zum Palais erklimmt, lächelt und gibt über solche Dinge keine Auskunft mehr. Nur die Ausgestoßenen melden sich vielleicht noch zu Wort.

Wie der portugiesische Produzent Paulo Branco, der sich beklagte, der Festivalpräsident Gilles Jacob habe ihm einen Platz für seine Bataille-Verfilmung "Ma Mère" mit Isabelle Huppert versprochen, und dieses Versprechen sei gebrochen worden. Wahr ist, das Branco, der unter anderem sämtliche Oliveira-Filme produziert, einer der Darlings von Cannes war, oft mit unfassbar langweiligen Filmen in den Wettbewerb kam und tatsächlich ein enger Freund von Gilles Jacob ist. Wahr ist aber offenbar auch, dass Jacob nach dem desaströsen Programm des letzten Jahres endgültig nichts mehr zu sagen hat.

"Er hat keinen einzigen Wettbewerbsfilm mehr gesehen", erklärt Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter, nicht ohne einen triumphierenden Unterton. So meint man, den Sieger eines klar gewonnenen Machtkampfs zu erblicken - kurz bevor die Show beginnt, und die glitzernde Fassade wieder geschlossen wird.

© SZ v. 13.05.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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