Eine Börsenhändlerin rechnet ab:Halbwissen ist Macht

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Von Abscheu über ihren Gelderwerb als Brokerin geplagt, wirft Anne T. ihren hochbezahlten Job hin und schreibt ein Buch darüber, wie sich die Finanzwelt verdummen ließ. Sehr aufschlussreich.

Andreas Zielcke

Als Nicolas Rolin, der wegen seiner Härte und Habgier verhasste Kanzler von Philipp dem Guten im Burgund des 15. Jahrhunderts, von Reue gepackt sein Gewissen erleichtern wollte, stiftete er das Hospice de Beaune, das bis heute wegen seiner großartigen burgundischen Architektur berühmte Krankenhaus zur Pflege der Armen.

Börsianerin zu Karneval in Frankfurt. (Foto: Foto: ap)

Als Anne T. von Selbstvorwürfen und Abscheu über ihren zynischen Gelderwerb als Brokerin geplagt, ihr Gewissen erleichtern wollte, warf sie ihren hochbezahlten Job hin und schrieb ein Buch. Von einer Spende für den Wiederaufbau der durch so viele Broker wie sie ruinierten Wirtschaft ist nichts bekannt. Was im Spätmittelalter die religiöse Buße war, ist im 21. Jahrhundert das publizistische Bekenntnis.

Den abgestürzten Unternehmen nützt die späte Einsicht nichts mehr, sie bedient nur die verbreitete Verachtung der Investmentbanken und gibt dem Affen Zucker. Trotzdem ist es ein aufschlussreiches Buch, selbst seine enormen Schwächen einkalkuliert.

Der Drang zum öffentlichen Bekenntnis macht aus "Anne T." - die nur unter diesem Pseudonym "auspacken" möchte, da sie auch die auftretenden Broker, Fondsmanager und Kunden anonymisieren muss - noch lange keine Schriftstellerin. Ihre Sprache bleibt, bis auf die schließlich durchbrechenden Skrupel, so grobschlächtig und auftrumpfend, wie sie im "Frontoffice" der Investmentbanken gesprochen wird, in dem die Broker ihr Geschäft betreiben. Deshalb passt der forsche Ton zu der Geschichte, die die Ich-Erzählerin zu berichten hat. Mit schneller Auffassungsgabe, Mut, Ehrgeiz und Geldgier (und wohl auch mit weiblichen Reizen, die ihr zu Hilfe kommen) ausgestattet, steigt sie in dem bulligen Milieu des Investmentbankings auf, kehrt ihm mitten im Erfolg den Rücken und gibt es der Entlarvung preis.

Fat Tails, Volas, Smiles

Im Unterschied zu den fiktiven Brokern wie Sherman McCoy in Tom Wolfes "Fegefeuer der Eitelkeiten" oder auch Patrick Bateman in Bret Easton Ellis' "American Psycho", deren literarisches Leben sich bei allem Glanz von Geld und Cleverness über menschlichen Abgründen bewegt, verläuft Anne T.'s Werdegang geradlinig, oberflächlich und undramatisch wie eine simple physikalische Kippschaltung: Steil und stetig geht es aufwärts, mit einem Mal bricht die Motivation weg, und aus ist es mit dem ihr unheimlich gewordenen Gelderwerb. Am Ende bleibt keine gebrochene Figur, vielmehr eine befreite junge Frau, die die Nase voll hatte. Keine Existenznot, keine ungelösten Konflikte.

Dafür liefert sie den seltenen Einblick in ein Geschäftsgebaren, das nicht nur wegen der komplizierten Finanztechniken für Laien schwer zugänglich ist. Schwer zugänglich ist es vor allem deshalb, weil zu seinem Erfolgsmodell gehört, dass man ein Geheimnis darum macht. Nicht diskret, sondern rätselhaft. Vor allem den innersten und heißesten Kern des Kapitalmarkts der letzten zwanzig Jahre, das Erzeugen und Handeln mit Derivaten und "strukturierten Produkten", umgab selbst in den Augen der übrigen Bankenwelt eine enigmatische Aura.

Hierhin hatte es die ehrgeizige Anne T. geschafft, hier war das alchemistische Labor, in dem noch aus riskantesten Krediten und Termingeschäften ertragreiche Wertpapiere erfunden und in Umlauf gebracht wurden. Hier wurde mit mathematischer Finesse und Phantasie das große Geld geschöpft, das in Milliardensummen täglich um die Welt flutete und dessen Struktur außer diesen Experten keiner begriff - und auch nicht zu begreifen hatte.

Geld ist in diesem Labor weit davon entfernt, bloßes Tausch-, Kredit- oder Liquiditätsmittel zu sein. Die Essenz des Laborgeldes ist es, Risiken in Handelsgut zu verwandeln. Das geschieht, indem man die Risiken kalkulierbar und damit Wetten zugänglich macht: strukturierte Produkte sind strukturierte Wetten. Das hier erzeugte Geld wird folglich nur vermehrt, in dem man die Risiken vermehrt. Deshalb sind die allermeisten Risiken, die gehandelt werden, künstlich definierte Risiken. Einfaches Beispiel: Welchen Preisabstand werden zwei beliebig ausgewählte Aktien in sechs Monaten haben?

Zwar kann man auch die Einsätze, die auf den Ausgang solcher Wetten setzen, verbriefen wie normale Wertpapiere. Aber kalkulieren kann man ihr Risiko (genauer gesagt: Bemessung, Verlauf und Volatilität des Risikos über eine bestimmte Zeit) nur wahrscheinlichkeitstheoretisch. So wurde Geld in demselben Maß unendlich vermehrt, in dem seine nachvollziehbare Beherrschung auf ein extremes Minimum reduziert wurde - reduziert auf jene wenigen Spezialisten, die die synthetisch strukturierten Risiken durchschauen konnten. Aus der Sicht des Alltagsgebrauchs und der ubiquitären Abhängigkeit vom Geld eine anmaßende Perversion sondergleichen.

Das alles muss man sich bei Anne T. selbst zusammenreimen, aber welchen undurchdringlichen Schleier diese Geldschöpfung umhüllt, macht sie sehr anschaulich. Einmal, erzählt sie am Rande, erfüllte sie einem normalen Bankier dessen Traum und ermöglichte ihm einen Besuch im Brokerzentrum ihrer Bank. So wenig der gute Mann in diesem mit komplexen mathematischen Formeln umflorten Tempelbezirk verstand, so schwer beeindruckt war er. "Wir orientieren uns natürlich", erklärte ihm einer der Broker, "an den gehandelten Volatilitäten an der EUREX, da bekommen wir aber nur einen Bruchteil der Volatilitäten mit, die wir für unsere Arbeit benötigen. Danach wird die Luft jedoch dünner. Wir kalibrieren mit GARCH beziehungsweise nutzen Modelle stochastischer Volatilität, etwa Hull. Außerdem haben wir noch das Problem der Fat Tails in den Volas, die Smiles, die Skews . . ."

Aha

Mit mehr als einem "Aha" konnte der Bankier derlei Erläuterungen nicht kommentieren. Und dieses begriffsstutzige "Aha" markiert ziemlich genau den Erkenntnishorizont, den noch nicht einmal ein Finanzmann überschreiten konnte, geschweige denn ein Laie, der als Kleinanleger das letzte Glied in der Risikogeldschöpfungskette bildet.

Wie ein roter Faden zieht sich durch die Schilderungen, mit welch ausdauernder Häme die Broker über die Ahnungslosigkeit ihrer Kunden herzogen, vor allem auch über die Ahnungslosigkeit der Fondsmanager und der Portfolioverwalter großer Unternehmen. Wenn nur die versprochene Rendite verlockend genug war, konnten die verkauften Risiken gar nicht raffiniert genug aufgebaut sein - als ob die Unergründlichkeit der Raffinesse schon selbst das Gütesiegel bot. Das Bankgewerbe, dessen Charakteristikum einst die schlaue Übervorsicht und die Übersicherung seiner Anlagengeschäfte war, trat die Vorsicht an eine Mathematik ab, die es nicht kapierte, und ließ sich durch den Voodoo-Zauber komplexer Gleichungen verdummen.

Dass auch sorgfältigste mathematische Risikokalkulation nur eine Scheinsicherheit liefert, ist jetzt, nach dem Kollaps, eine wohlfeile Einsicht, doch sie war schon vorher zu haben. Das Spekulative am Spekulationsgeschäft kann keine Mathematik beseitigen. 1998, nach der ersten Erschütterung des Finanzmarkts durch den Zusammenbruch des Hedgefonds LCTM (zu dessen Chefs übrigens die beiden Nobelpreisträger Fischer Black und Myron S. Scholes gehörten, auf deren Differentialgleichungen zur Preis-, Volatilitäts-und Risikoentwicklung von Wertpapieren alle Mathematik der strukturierten Produkte aufbaut), bereits 1998 also warnte ein internes Memorandum der Investmentbank Merrill Lynch vor der Sicherheitsillusion. Mathematische Finanzmodelle, hieß es, "lösen das Gefühl einer größeren Sicherheit aus, als sie tatsächlich garantieren können. Darum sollte man sich nur begrenzt auf sie verlassen". Eigentlich eine Binsenweisheit, die aber der Magie der wundersamen Modelle nicht standhielt, auch nicht bei den Warnern selbst. Heute gibt es Merrill Lynch als selbständige Bank nicht mehr, sie verspekulierte sich am Derivatenmarkt für Immobilienkredite.

Pubertäre sexistische Angeber

Dass die gesamte Finanzwelt sich zum kollektiven Ritt über den Bodensee aufmachte, führt Anne T. allein auf die Gier der handelnden Bankiers und Broker zurück. Das ist, gemessen an den komplizierten Bedingungen, die dem Kapitalmarkt den jahrelangen phantastischen Ritt ermöglicht haben, eine sehr dürftige Erklärung. Doch das schadet dem Buch trotz seines knalligen Tenors nicht sonderlich, weil es ohnehin jegliche Analyse vermeidet, ja noch nicht einmal die Gelegenheit ergreift, die strukturierten Produkte im Detail darzustellen, obwohl sie doch im Mittelpunkt stehen.

Was aber stattdessen von Anne T. illustrativ beschrieben wird und die Lektüre lohnt, das sind die Atmosphäre und Mentalität der agierenden Broker. Man kann sich die Stimmung in deren Großraumbüro, sobald der Zeitdruck für einen Moment nachlässt, gar nicht pubertär, angeberisch, sexistisch und dümmlich genug vorstellen. Hier profitiert der Bericht mächtig davon, dass es eine junge Frau ist, die sich in dieses Milieu begeben hat. Auch wenn sie in ihrem Ehrgeiz meinte, das primitive Spiel mitspielen zu müssen, so verkannte sie doch nie dessen Erbärmlichkeit. War aber dann wieder die volle Präsenz verlangt, verwandelten sich die unreifen Jungs mit einem Schlag in hochkonzentrierte Professionelle, deren Verstand, Wachsamkeit und Entscheidungsschnelle sofort auf der Höhe dessen war, was die sekundengetaktete Artistik des Millionengeschäfts von ihnen verlangte. Das ist kein faustisches Hin und Her zwischen zwei Persönlichkeiten, sondern der Wechsel zwischen den beiden Seiten ein und derselben mentalen Medaille - Professionalismus ohne soziale Substanz.

Immerhin, mit ihrer Beherrschung der eingesetzten Mathematik verfügten sie über das Halbwissen, das die Kalkulationen über die zugrunde liegenden Risiken im allerbesten Fall hergeben. Alle anderen, in erster Linie ihre Kunden, kamen nie über ein Bruchteil dieses Halbwissens hinaus. So gesehen waren die Broker tatsächlich die Masters of the Universe, wie es ihrer infantilen Einbildung entsprach. Nie kam es in ihren pubertären Sinn, dass sie deshalb auch die Hauptverantwortung für das wirtschaftliche Desaster tragen, das ihr Risikogeld auslösen konnte.

ANNE T.: Die Gier war grenzenlos. Eine deutsche Börsenhändlerin packt aus. Econ Verlag, Berlin 2009. 240 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 18.3.2009/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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