Ein Buch, das die Welt (nicht) braucht:Die List mit der Liste

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Danke. Für ein Buch, in dem nichts steht, was man wissen müsste. Man liest darin, blättert weiter und hat schon wieder vergessen, was man gelesen hat. "Schotts Sammelsurium" ist dennoch erfolgreich. Und zu Recht. Aber, bitte, bitte: Nicht nachahmen!

ALEX RÜHLE

Ben Schott kann nichts dafür, er hatte es wirklich nicht auf einen Bestseller abgesehen.

Hier sehen Sie, wie man einen indischen Sari bindet. (Foto: N/A)

Er wollte nur einigen Freunden ein gediegenes Weihnachtsgeschenk machen. Und so beglückte er sie vor vier Jahren mit einem selbstgebastelten Buch voller absonderlicher Listen und Trivia. Die liebevoll gestalteten Bücher des Fotografen machten in London die Runde, ein Agent von Bloomsbury bekam eines in die Hände, und kurz darauf blockierte "Schotts Sammelsurium" die Bestsellerlisten.

Ben Schott gibt auf 158 Seiten Antworten auf Fragen, die man nie im Leben gestellt hätte. Oder hätten Sie je von sich aus wissen wollen, was es am 14. April 1912 auf der "Titanic" Leckeres zu essen gab (Austern, Gerstenrahmsuppe, gefüllter Eierkürbis, gebratenes Täubchen auf Brunnenkresse, Waldorfpudding), welche Luftgeschwindigkeit ein Husten erreichen kann (900 Stundenkilometer) oder wie lange man schreien müsste, um genügend Schallenergie zu produzieren, damit davon eine Tasse Kaffee erhitzt werden kann (acht Jahre, sieben Monate und sechs Tage)? Welche burmesischen Könige sind eines "merkwürdigen Todes" gestorben?

Schott zitiert auf dem cremeweißen Einband seines "Sammelsuriums" eine verwunderte Frage Samuel Johnsons: "Sir, lesen Sie Bücher etwa ganz?"

Hier sehen Sie, was man so winkt, um ein Flugzeug zu parken. Falls Sie mal in die Verlegenheit kommen... (Foto: N/A)

Die niederschmetternde Tatsache, dass man eigentlich ja nichts weiß außer ein paar zusammengelesenen Bröseln, wird in dieser Frage frech ins Affirmative gewendet.

Samuel Johnson selbst begründete sein unstillbares Interesse an kleinteiligem Spezialwissen übrigens einmal damit, dass es eine lebenserleichternde Funktion habe:

"Durch die Beschäftigung mit den kleinen Dingen erreichen wir die große Kunst, so wenig Unglück und soviel Glück wie möglich zu erreichen."

Ben Schott ist der eigentliche Gott der kleinen Dinge, sein Kompendium wurde in England und den USA über zwei Millionen mal verkauft. Hierzulande steht das Sammelsurium aus Bleistifthärtegraden, Canasta-Punktewertungen und Todesarten in Miss-Marple-Romanen seit Monaten auf Platz eins der Bestsellerliste.

Er hat mittlerweile nachgelegt: "Schott's Food and Drink Miscellany" gibt es in England bereits länger, soeben erschien "Schott's Sporting, Gambling & Idling Miscellany". Wieder durchstreift der studierte Sozialwissenschaftler, abgebrochene Werbeexperte und erfolgreiche Fotograf Lexika, Enzyklopädien und abseitige Geschichtsbücher, pickt hier und da Nutzloses auf und arrangiert es neu.

Nun hat Schott das Auflisten nicht erfunden. Vor fünf Jahren veröffentlichten etwa Walter Krämer und Michael Schmidt ein "Lexikon der populären Listen".

Auch hier wurde die Welt in Tabellenform gegliedert. Die beiden - vielleicht weil sie von Berufs wegen Statistikprofessoren sind - haben ihre Listen aber recht nutzbringend und übersichtlich in Kapitel untergliedert:

Literatur, Medien, Sport... Was dem Leser bei aller Atomisierung immerhin suggeriert, dass man hier zwar isolierte Fakten an die Hand geliefert bekommt, diese aber doch zu einem welterklärenden Mosaik zusammenzusetzen sind. Schott verweigert sich aller zielgerichteten Anwendung, indem er seine Tabellen und Listen wild durcheinander würfelt und auf Wertungen verzichtet.

Auf "einige Shakespearsche Beleidigungen" folgt die Aufzählung der "erklärten Atommächte", auf "eponyme Gerichte" eine Auflistung verschiedener Briefumschlagformate.

Das Ganze ist Bricolage in Reinkultur, fröhliche Wissenschaft ohne Erkenntnisanspruch, private Unterhaltung fürs Kurzzeitgedächtnis. Dass sich die Leser so begeistert auf dieses Buch stürzen, hängt vielleicht gerade mit diesem Betonen der Nutzlosigkeit des zusammengetragenen und bibliophil aufbereiteten Stoffs zusammen.

Statt einem funktionalen Bildungsbegriff zu huldigen, der in Zeiten des pisanisch panischen Effizienzgeredes stets auch mit dem ökonomischen Nutzwert operiert, gibt es hier Wissensverschwendung im Überfluss. Die Liste, der Kanon, die Edition - meist umgeben sich solche Projekte ja mit der hochrichterlichen Aura der Alleingültigkeit und suggerieren so, dass der, der sie erwirbt oder studiert, dadurch endlich mithalten kann, Mindeststandards erwirbt, eine Grundmatrix einzieht.

Kanon bedeutet im Griechischen ursprünglich Rohrstock. Und Bildung ist heute für die meisten das, was man wahrscheinlich eigentlich wissen müsste.

Schott, der edle Weine, Zigarren und Orgelmusik zu seinen Hobbys zählt und in Cambridge ausgebildet wurde, schickt solch ängstlich zweckgebundene und verklemmte Wissensvermittlung selbstbewusst zum Teufel. Seht doch nur, sagt er, der Zehner-Code für Amateurfunker, alle Länder mit Linksverkehr, die Frauen Heinrichs VIII., it's all interesting, isn't it?

Die Idee, der Welt in all ihrer unordentlichen Krudheit mittels je eigener Ordnungskriterien und Auswahlverfahren Struktur und Schönheit zu verleihen, muss nicht nur in London in der Luft gelegen haben: Zeitgleich mit "Schotts Sammelsurium" erschienen hierzulande Christian Ankowitschs "Kleines Konversationslexikon" und die bei Goldmann lieblos zusammengeschusterte Anthologie "Wussten Sie schon?" des Engländers Mitchel Symons (Goldmann, München 2004, 334 Seiten, 10 Euro).

Andere Verlage drohen schon damit, im Frühjahr je eigene Sammelsurien herauszubringen.

Und auf die Journalisten scheint Schott ebenfalls stilbildend einzuwirken: So erschien das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zum Jahreswechsel mit einer völlig eklektizistisch-idiosynkratischen Jahreslistenauswahl, die Weltwoche brachte gar 120 Seiten lang Listen. Nichts sonst. Da merkte man dann, wie schwer das ist mit dem Easy Listening.

Dass es nicht damit getan ist, uninteressante Fakten einfach aus einem größeren Kontext zu reißen und dann in Form von Sammel-Suren runterzubeten. So wie die Ernährungsindustrie einem inzwischen in 50 Prozent der Produkte Lebensmittel vorsetzt, die man vor ihrer Existenz nie vermisst hätte, die man aber, sobald sie einmal aufgerissen sind, freudlos in sich hineinfuttert, so überfraß man sich schnell an all den Trivia über amerikanische Prominente, Oscar-Verleihungen und den Rest der Welt.

© SZ v. 01.02.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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