"Don't Tell":Im Innern des Apparats

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Cristina Comencinis Film "Don't Tell", der im Original "La bestia nel cuore" heißt, erhielt schon auf dem Filmfest in Venedig letzten Sommer viel Aufmerksamkeit. Aber reicht es auch für einen Oscar?

Susan Vahabzadeh

Man mag's nicht glauben, aber auch nach einer Woche Festival ist der Lido immer noch voller Leben, enthusiastisch, entflammt, erleuchtet.

Hauptdarstellerin Giovanna Mezzogiorno wurde auf dem Filmfest in Venedig 2005 als beste Schauspielerin für ihre Leistung in "La bestia nel cuore" (Don't Tell) ausgezeichnet. (Foto: Foto: ap)

Jeden Abend versammeln sich junge Mädchen vor der Absperrung am roten Teppich und brüllen, wonach der Augenblick verlangt - "George, George" für den, den die italienische Presse längst Leone getauft hat; "Russell, Russell" für den boxenden "Cinderella Man"; und "Elijah, Elijah" für den kleinen Hobbit auf Ahnensuche in Liev Schreibers "Everything Is Illuminated".

Aber "Liev, Liev"? Ist das wirklich zu glauben, dass die Mädels von seinem Auftritt als "Manchurian Candidate" so hingerissen waren, dass sie nun für sein Regiedebüt Transparente malen?

Jedes Festival braucht den Hype

Festivals sind nichts ohne den Hype, den sie betreiben, ohne die entrückten Berühmtheiten würden sie kaum jemanden interessieren. Und wenn man das ganze Kino liebt, hat man manchmal ein bisschen Angst, die starfreien, zerbrechlichen Gebilde vom Rande des Weltkinos könnten zerbersten in dem Gebrüll - nur sollten sie so beschaffen sein, dass sie nicht von allein in sich zusammenfallen.

Zwei dieser Fragilitäten, die einem nicht zwingend vorkommen, liefen im Wettbewerb, beide spielen vor dem Hintergrund der kommunistischen Revolution, Stanley Kwans "Everlasting Regret" in Schanghai und Alexej Germans jun. "Garpastum" in St. Petersburg.

Kwan beschreibt das Leben einer jungen Frau, die bizarrerweise immer jung bleibt. Eine hoffnungsvolle Schönheit aus der Oberschicht, die an einen Offizier gerät, und dann, da sind schon die Kommunisten an der Macht, immer wieder an die falschen Männer.

Von der Pracht, in der sie aufwuchs, kann sie nichts festhalten außer der Lust auf Kaffee und westliche Schleckereien. Einmal hält Kwan den Abschluss einer Scheinehe im Inneren eines Fotoapparates fest - ein vollkommenes Bild für eine Beziehung, die dokumentiert wird, obwohl sie nie existierte.

Aschgrau ist die Zukunft

Aber die gut aufgelösten Details addieren sich in "Everlasting Regret" nie zu einer Summe. Bei German geht es um zwei fußballbesessene Jungen - Garpastum ist ein lateinisches Wort für Ballspiel -, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs ein Stadion bauen wollen, ihr Field of Dreams. Wenn der Krieg vorüber ist, wird ihnen nichts bleiben außer den Fußballträumen - ein aschgrauer Film über Menschen mit einer aschgrauen Zukunft.

Es gibt einen verstörenden, beiläufigen Mord an einem halben Dutzend Tartaren, ein Kind wird umgebracht und man hört nur das Knacken seines brechenden Genicks. Die Szene ist grandios in ihrer lakonischen Grausamkeit, aber sie findet in der Geschichte keinen Halt.

In beiden Filmen sieht man großes Potenzial, aber nicht genug Gefühl fürs große Ganze. Beide benutzen die Weltpolitik im Hintergrund als Element, aber sie gehen nicht mit ihr um, der Zusammenhang mit den Figuren bleibt Behauptung - so kann man innerhalb von nur vier Stunden zwei Revolutionen verpassen.

"La bestia nel cuore"

Der stärkste der drei italienischen Wettbewerbsbeiträge ist Cristina Comencinis "La bestia nel cuore", obwohl auch bei ihr die einzelnen Teile stärker sind als der ganze Film.

"La bestia" beginnt mit einer großartigen Horrorkamerafahrt - eine Wohnung aus den Siebzigern, verlassen und dunkel, unter einer dicken Staubschicht. Es ist das Museum der Erinnerung von Sabina, die Eltern sind tot, der Bruder lebt in Amerika. Sie hat wenig Verbindung zu ihrer Vergangenheit, muss sich von ihrer Freundin erzählen lassen, wie es war in dieser Wohnung, und dann sieht sie immer noch die Staubschicht und die Menschen sind eingefroren in einer Bewegung - ein Wachsfigurenkabinett.

Die Freundin wird später erblinden, sie hat sich ihr Bild von der Welt eingeprägt, die erstarrte Aufnahme eines toten Augenblicks... Als Sabina ein Kind will von ihrem Freund, der Schauspieler ist, beginnt sie plötzlich, sich mit der Familienhistorie zu befassen - und fördert eine verdrängte Missbrauchsgeschichte zutage.

Comencini hat das ein bisschen amerikanisch erzählt, was nicht schadet, allerdings gerät ihr der Film im letzten Drittel viel zu rührselig, und eine Nebenhandlung übers Filmemachen steht allein in einer Geschichte herum, mit der sie nicht verwandt ist.

Ein schöner Nebenkriegsschauplatz sind Sabinas zwei Freundinnen, die sich ineinander verlieben - sie zeigen, durchaus komisch, eine völlig angstfreie Beziehung. Wegen der harmlosen Liebesszenen zwischen den beiden hat es vorher Ärger um die Altersfreigabe in Italien gegeben. Wenn wir alle auf die gleiche Art zerfallen im Tod, fragt Comencini, sind wir dann nicht alle gemacht nach derselben Rezeptur, tragen wir nicht alle denselben Teufel in uns?

"Der ewige Gärtner"

Die höchsten Erwartungen in der zweiten Hälfte des Wettbewerbs lasten wohl auf dem Brasilianer Fernando Meirelles, der, ermutigt von den Oscarnominierungen für "City of God", "The Constant Gardener" gedreht hat mit Ralph Fiennes und Rachel Weisz - kein zartes Gebilde, dass man schützen will, sondern eine Le-Carré-Verfilmung mit amerikanischer Beteiligung.

Er hat eine schöne Struktur gefunden, aber sie ist nicht konsequent genug; und er hat eine schöne Geschichte gefunden, aber sie ist nicht plausibel genug. Justin und seine junge Frau Tessa (Fiennes/Weisz) sind Kinder der britischen Oberschicht, die in Kenia leben.

Der Film beginnt mit der Nachricht von Tessas Ermordung - worauf der Regierungsbeamte Justin beginnt, ihre Recherchen nachzuvollziehen, um sie im Tod zu verstehen, aber er wird immer mehr zu ihrem Spiegelbild. Tessa war einem Medikamentenskandal auf der Spur, ein Konglomerat von Pharmaunternehmen - eine Achse des Bösen, sagt Justin - testet aus Profitgier ein lebensgefährliches Tuberkulosemittel in Afrika.

Das ganze schaut grandios aus - viel Handkamera, mit unterschiedlichen Texturen, sehr schnell geschnitten -, aber der Plot verrennt sich in seinem Weltrettungsgestus ungefähr so wie Tessa, die ihre Leidenschaft mit dem Leben bezahlt. Aber wenn "The Constant Gardener" für diese Haltung - Anklage um den Preis der Plausibilität - einen Preis bekommt, wäre es kein Wunder. Höchstens ein bisschen traurig.

© SZ vom 10.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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