Documenta 2007:"Wenn die Documenta fertig ist, ist sie tot"

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Mit dem Knüppel auf die Birne? Auf der Documenta soll Komplexität massenkompatibel serviert werden. Die Kuratoren Ruth Noack und Roger M. Buergel gewähren erstmals gemeinsam Einblicke in Details der Kasseler Weltkunstschau.

Holger Liebs

SZ: Sind Sie schon nervös?

Roger M. Buergel (Foto: Foto: documenta/Maria Ziegelböck)

Roger M. Buergel: Nee.

Ruth Noack: Die Rollen sind verteilt. Er ist nicht nervös, ich schon. Ich habe nur drei Stunden geschlafen.

SZ: Das wird noch schlimmer werden bei der Eröffnung.

Noack: Nein, dann hört es auf. Ich denke einfach, wir haben noch viel zu tun. Roger denkt, wir sind fertig.

Buergel: Wenn die Documenta fertig ist, ist sie tot.

SZ: Ich hoffe nicht. Oder ist der Aufbau der Documenta wichtiger als die Ausstellung?

Buergel: Wenn man sich vor Augen führt, wie die Ausstellung Form gewinnt, was man an Souveränität abzugeben bereit ist gegenüber dem Eigensinn von Künstlerinnen und Künstlern, an die Architektur, an die Presse, merkt man, wie wenig man das kontrollieren kann. Wenn man es versucht, wird man wahnsinnig. Es ist also besser, wenn man diesen Prozess im Fluss steuert. Insofern gibt es zwischen Vorgeschichte und Ausstellung keinen intelligenten Unterschied.

Noack: Fertig ist die Documenta aber nicht bei der Eröffnung, sondern erst wenn der letzte Besucher gegangen ist. Wir sagen, ästhetische Erfahrung besteht nicht nur aus Kunstwerken, sondern aus dem, was zwischen Kunstwerk und Publikum passiert.

SZ: Was hat die zwölfte Documenta anzubieten an "ästhetischer Erfahrung", wie Sie es nennen? Wie lässt sie sich in den Bühnen dieser Erfahrung, den Ausstellungsräumen festmachen, im Fridericianum, im Aue-Pavillon...?

Noack: Das sind sehr unterschiedliche Räume. Eine Bühne im Sinne einer öffentlichen Agora ist vor allem die Documentahalle. Sie ist mit einem modernistischen Ethos gebaut, das davon ausgeht, dass es eine Öffentlichkeit gibt und dass alles zugänglich sein muss. Die Glasfassade ist ja bezeichnend. Den Aue-Pavillon dagegen würde ich nicht als Agora bezeichnen. Dort gibt es sehr intime Räume. In den Palmenhainen können sich 15, 16 Leute treffen...

SZ: Der vielbeschworene "Palmenhain" war also keine Metapher?

Noack: Es gibt keine Palmen und keinen Hain. Das sind markierte Orte, die der Vermittlung vorbehalten sind, wo Stühle stehen und man im Angesicht von Kunst diskutieren kann.

Buergel: Es war uns wichtig, das Moment der Gestaltung zurückzudrängen, die Setzung einer Bildungsinsel nicht über Design zu lösen. Sondern über die Energie der Leute. In unserem Leitbild aus Santiniketan...

SZ: ...der indischen Universitätsstadt, wo Menschen unter einem Baum im Kreis sitzen...

Buergel: ...ja, dort gibt es auch diese Energie. Aber es wäre falsch, das Bild des Hains wörtlich zu verstehen. Er ist tatsächlich metaphorisch gemeint.

SZ: Wenn Gestaltung bei den Bildungsinseln nicht stattfindet, wenn sie kaum sichtbar sind: dann gehen die Leute doch einfach weiter, oder?

Buergel: Das kann passieren. Aber die Documenta muss auch die Möglichkeit ihres Scheiterns ausstellen. Wir wollen ja nicht auf Nummer sicher gehen. So dass es einen Sandkasten zum Reinsetzen gibt, wo man spielen kann. Sondern dass diese Situation unentscheidbar bleibt. Das ist eine der entscheidenden Lektionen: Ob die Menschen Unentscheidbarkeit aushalten.

Noack: Das geht aber nur, indem unsere Vermittlerinnen und Vermittler sich aktiv verhalten. Sie sind ja nicht bloß Dienstleister, die unsere Gedanken weitertragen. Es gibt einen Pavillon des Künstlers Gerwald Rockenschaub; im Prinzip nichts anderes als eine Häschenschule, eine geometrische Komposition mit Bänken, die sehr eng hintereinander gestaffelt stehen, mit einer Schultafel, also sehr polemisch.

Buergel: Da gibt's in Sachen Bildung jedenfalls keine Missverständnisse.

Noack: Da kann man dann dieses kommunitaristische Ideal nicht mehr verwirklichen. Schon allein dadurch, dass man gezwungen ist, so zu sitzen.

Buergel: Es ist eine Parodie.

Seite 2: Visuelle Erleuchtung und das Kind auf dem Schlachterblock.

SZ: Eigentlich sind Sie ja mit diesen Bildungsinseln fein raus. Wenn die Documenta scheitert, liegt es an den Besuchern. Das bürden Sie denen auf.

Ruth Noack (Foto: Foto: documenta/Maria Ziegelböck)

Buergel: So ist es.

SZ: Das heißt, die Ausstellung selbst kann nicht schuld gewesen sein.

Buergel: Das hängt vom Wechselverhältnis zwischen Kunst und Betrachtern ab. Regierung im Foucaultschen Sinne bedeutet ja ganz abstrakt das Einsetzen von Handlungen, die den Handlungsspielraum von anderen bestimmen. Also arbeitet man eher mit subtilen Spannungen, als sozusagen den Knüppel auf die Birne zu hauen.

Noack: Es geht aber nicht nur um ein kuratorisches Konzept, in das die Kunst eingespeist wird. Kunst muss auch widerständig sein - stark genug, sich zu behaupten gegenüber den Konzepten. Die Ausstellung bietet Konzentrationspunkte, wo eine These vorgearbeitet ist, und Zerstreuungspunkte. Wenn die Kunstwerke niemanden verführen, warum soll man sich dann mit ihnen beschäftigen?

SZ: Womit wir bei der Frage der Theorielastigkeit sind. Bei Ihren Leitfragen, etwa der "Moderne als unsere Antike", gewinnt man den Eindruck, die Kunstwerke seien vor allem als Erfüllungsgehilfen Ihrer Thesen ausgesucht.

Buergel: Die Kunst des Kuratierens liegt ja gerade darin, an einen Punkt zu gelangen, wo die Arbeiten sich emanzipieren von ihrer Rolle als Erfüllungsgehilfen. Aber natürlich sollen sie einem trotzdem zu denken geben, klar.

Noack: Man kann den Diskurs von den Werken nicht trennen.

SZ: Vermitteln die Metallstangen von Iole de Freitas, die die Fassade des Fridericianums durchdringen, eher eine Idee poetischer Leichtigkeit - oder geht es darum, dass modernistische Dynamik einen Tempel des Klassizismus durchbohrt?

Buergel: Das schließt sich ja nicht aus. Man kann mit dieser Arbeit zeigen, aus welchem modernen Formenarsenal sich die Einrichtungskultur heutiger Avantgarde-Boutiquen speist, man kann daran aber auch die Entkopplung zwischen avancierten Architekturkonzepten auf der einen und sozialistischen Idealen auf der anderen Seite aufzeigen.

SZ: Zwischen zwei abstrakte Gemälde von Lee Lonzano haben Sie ein Porträt Gerhard Richters von Tochter Betty gehängt. Welcher Diskurs steht dahinter?

Buergel: Darüber kann man viel sagen. Aber entweder leuchtet es visuell ein oder nicht. Lee Lonzano bezieht sich auf den Suprematismus...

SZ: ...die russische Stilrichtung der Moderne, in der abstrakte Formen höchste menschliche Erkenntnisprinzipien darstellen sollten...

Buergel: ...und bei Richter wird der Einsatz dieses utopischen Denkens gezeigt. Und der war halt das bloße Leben. Da ging's ja um den neuen Menschen.

SZ: Das müssen Sie erläutern.

Buergel: Was man bei Richter mit dem Familiären assoziiert, ist ja keine Einbahnstraße. Dahinter steht die Idee eines versöhnten Universums. Das war den Utopien des frühen 20. Jahrhunderts nicht fremd: eine Form der Intimität, die aufzuheben versucht, was Max Weber als "Entzauberung der Welt" bezeichnet hat. Richter exponiert also ein Individuum, ein Kind, aber in diesem Kind-Frau-Status, und zwar auf radikale Weise. Viel deutlicher als bei Delacroix mit seinem Bild der Freiheit auf den Barrikaden, aber ähnlich wie bei Manet mit seiner Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko wird hier ein Moment der totalen Ausgesetztheit, der völligen Blöße und Konfrontation gezeigt. Diese Exponiertheit des Individuums macht deutlich, warum und wofür man kämpft.

SZ: Das Bild ist doch eher ein familiäres Idyll als politisch gemeint...

Noack: Aber das Kind liegt auf einem Schlachterblock. Richter hat das Motiv zuerst fotografiert und dann die Vorlage sexualisiert. Die Kante, die man als Schlachterblock interpretieren kann, ist von ihm hinzugefügt worden. Als Betty fotografiert wurde, lag sie noch auf dem Fußboden. Es ist nur ein kleines Detail, wird aber kunsthistorisch in Analogie gesetzt zu der auf dem Boden liegenden Ulrike Meinhof.

SZ: Und warum bewachen die Arbeiten von Lee Lozano nun Richters Betty, die eigentlich Ulrike ist?

Buergel: Lozano malt ihr Bild ohne Zugeständnis an die peinture, da ist keine Zartheit, sie schafft mit Malerlack eine brutale Oberfläche, aber ihr gelingt ausgerechnet mit dieser Industrieoberfläche ein Bild, das nur von Licht handelt. Die Oberfläche ist wie gekämmt. Das lässt sich bis Plato zurückverfolgen: die Aufhebung der Form durch Licht. Ein großes Thema der Metaphysik. Metaphorisch steht dieses Licht aber auch für den Blick des Publikums oder Individuums. Genau um diesen Blick fleht wiederum Betty. Diesen Blick, diese Öffentlichkeit hatte eine Ulrike Meinhof nicht. An diesem Punkt inszeniert Richter mit seiner Betty also eine Art kollektive Hinrichtung. Betty ist der Keim von Richters RAF-Zyklus. Das Bild wurde kurz nach dem 18. Oktober 1977 gemalt.

SZ: Glauben Sie im Ernst, dass all das dem Publikum "visuell einleuchtet"?

Noack: Das Publikum wird das natürlich nicht alles wahrnehmen. Damit müssen wir leben. Zeitgenössische Kunst braucht Hingabe, jahrelange Hingabe. Man kann sie nicht so einfach unterm Arm mitnehmen. Aber: Auch den Experten wird es bei unserer Documenta an Interpretationswissen fehlen. Da sind dann alle wieder fast auf dem gleichen Stand. Doch nur wenn jemand etwas nicht weiß, heißt das noch lange nicht, dass er nicht schauen und sich involvieren soll.

Seite 3: Indirekte Aktivierung statt Politisierung.

SZ: Klaus Ronneberger schreibt im zweiten Documenta-Magazin, wo es ums "bloße Leben" geht, über politische Ausgrenzungspraktiken. Bildet sich das in der Ausstellung ab? Anders gefragt: Was hat die "d12" mit dem G-8-Gipfel zu tun?

Noack: Wir stellen ja sogar ein Werk aus, das die "Exklusive" neben Judikative, Legislative und Exekutive als vierte Macht im Staate bezeichnet. Die Skulptur von Andreas Siekmann steht bereits draußen im Regen. Ein Fernsehjournalist wollte die Arbeit schon auf Trikont-Länder beziehen...

SZ: ...auf welche Länder?

Noack: Dritte-Welt-Länder. Unsere Assistentin sagte ihm dann, dass es auch Fälle hier in Kassel gibt, in denen Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, um Familien zu trennen.

Buergel: Ronnebergers Text ist ja illustriert mit Zoe Leonards Fotoserie "Analogue". Da geht's um den Textilhandel, der Klamotten für Afrika sammelt. Dort werden diese Kleider dann aber verkauft, weil sie prestigeträchtig sind. Leonard geht es also um die Migration der Formen, in diesem Fall der Wäscheberge, die in Afrika Statussymbole sind, aus Second-Hand-Shops an der Lower East Side. Wie also das bloße Leben mit Ökonomie zusammenhängt. Die Politisierung der Documenta verläuft nur mittelbar, es gibt keine Brücke zwischen Kassel und Heiligendamm.

Noack: Auch wenn der Zaun dort genauso viel gekostet hat wie die Documenta insgesamt...

Buergel: ...und auch wenn Künstler wie Christian von Borries nach Heiligendamm fahren - unser Argument ist ein anderes. Wir wollen einem Massenpublikum Komplexität schmackhaft machen. Und zwar in Form einer indirekten Aktivierung, nicht im Sinne direkter Politisierung.

Noack: Und wo würdest du in dem Zusammenhang den Fotografen George Oshodi mit seinen Bildern aus dem Nigerdelta verorten? Wir zeigen ja eigentlich kaum Dokumentarkunst. Aber Oshodi ist Fotojournalist aus Nigeria und arbeitet für Associated Press und Le Monde Diplomatique.

Buergel: Oshodis Arbeit steht ja nicht für sich. Wir zeigen eine Arbeit, die sich mit der Modernisierung Chinas befasst, und Oshodi zeigt, woher das Öl kommt, welches diese Ökonomie schmiert. Die Bilder interessieren mich wegen ihrer formalen Qualitäten. Sie erlauben, in einem Kriegsgebiet so etwas wie einen kontemplativen Blick einzunehmen.

Noack: Das ist also keine Reportage?

Buergel: Der Status der Bilder ist unentscheidbar. Oshodi bezeichnet sich nicht als Künstler. Mir ist diese Art Positionskampf bei ihm aber genauso wurscht wie bei Ferran Adrià...

SZ: ...dem Starkoch, der angeblich abgesagt hat.

Buergel: Er hat nicht abgesagt.

Noack: Es soll ja durchaus die Ambivalenz erhalten bleiben, dass man sich fragt, ist das jetzt Kunst oder nicht. Daher meine Frage an Roger. Der Chinese, der die Modernisierungsprozesse in Peking abbildet, bedient sich der alten chinesischen Malerei. Hier stehen Hochkunst und Journalismus nebeneinander.

SZ: Die Documenta 12 wird zum ersten Mal von zwei Leitern oder Kuratoren verantwortet. Gibt es Reibungsverluste bei der Aufteilung der Arbeit, bei der Frage nach Autorität?

Buergel: Nein. Aber es gibt bestimmte Tage, da will ich auch mit Künstlern, die ich liebe, einfach nichts zu tun haben. So eine Ausstellung ist wie ein persönlicher Bildungsroman. Die Kunst liegt darin, sich durchdringen zu lassen von den Lerneffekten. Professionalität liegt wiederum darin, sich von Subjektivität freizumachen.

SZ: Sie distanzieren sich von der Idee des Kurators als eigentlichen Autor, als Quasi-Gott der Ausstellung?

Noack: Ich weiß nicht, ob man das überhaupt kann. Ich denke schon, dass wir ein Subjekt sind, nur eben auf komplexe Art, gespalten und auch widersprüchlich. Wir können nicht behaupten, dass wir objektiv seien.

Buergel: Man kann sich nicht so gut selbst belügen, wenn man zusammenarbeitet. Das Modell Symbiose fällt flach.

Noack: Wir nehmen unterschiedliche Perspektiven ein. Da gibt es Konflikte, und die werden ausgetragen. Und zwar so lange, bis man sich einigt.

SZ: Haben Sie im Moment einen Lieblingskünstler der Documenta?

Buergel: Natürlich ein Projekt, das noch nicht realisiert ist! (beide lachen) Alejandra Riera.

Noack: Sie nahm an der letzten Documenta teil. Das Werk ist aber gescheitert. Rieras Kunst kann nicht immer und überall stattfinden.

Buergel: Sie interessiert sich nicht für Öffnungszeiten oder Termine. Auch das symbolische Kapital einer Documentateilnahme ist ihr egal. Gleichzeitig arbeitet sie sehr konstruktiv. Aber man muss sich ihr ausliefern.

Noack: Vollkommen. Jeden zweiten Tag schreibt sie eine Mail über acht Seiten auf Französisch und erwartet, dass Roger mir alles übersetzt.

SZ: Worum geht es in Rieras Werk?

Buergel: Sie nennt das, was sie macht, eine Untersuchung des Draußen. Also: Wie kann man die Welt, in der man lebt, von außen betrachten. Es ist natürlich klar, dass diese Sicht vom beschleunigten Kapitalismus verunmöglicht wird. Sie geht ungeheuer subtil vor. Nicht über die romantische Setzung, dass man als Künstlersubjekt von der Welt unabhängig ist - sondern durch sehr genaue Beschreibungen dieser kleinen Risse, die es dann doch in unserer Welt gibt und die sich mal als Traumata zeigen, mal als Unfälle oder im Freudschen Sinne als Fehlleistungen. Riera tut sich also zusammen mit diesem Kollektiv von Irren, einer Theatergruppe in São Paulo, die sich im Wallraff'schen Sinne der Investigation der Realität verschrieben hat. Die gehen zum Beispiel auf einen Polizisten zu, streicheln das Pferd und fragen, wie oft das Pferd täglich zu essen bekommt. In die Antworten fließt dann sehr viel gesellschaftlich Unbewusstes ein.

Noack: Sie verfolgt ihre Themen über Jahre. Sie hat über eine kurdische Politikerin gearbeitet, die zehn Jahre im Gefängnis saß, weil sie im Parlament kurdisch gesprochen hatte. Sie hat immer wieder und wieder Untersuchungen angestellt, bis man ihr sagte, lass' es sein. Sie beharrte aber darauf. Im Grunde ist sie eine richtig romantische Künstlerin.

Buergel: In diesem Sinne ist das Fertigwerden tatsächlich eine Todesdrohung.

© SZ vom 15.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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