Die Waffen-SS-Debatte um Grass:Intellektuelles Moralgeflatter

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Angesichts der immergleichen Debatten und immergleichen Protagonisten wird klar: für die Jüngeren ist in diesem Land kein Platz. Die Alten, die die Nazizeit noch erlebt haben, verstellen ihnen mit ihren NS-Selbstbespiegelungen die Sicht. Das ist das wahre Methusalem-Komplott.

Eva Menasse und Michael Kumpfmüller

Günter Grass war als Junge in der Waffen-SS und hat dort drei Monate lang keinen Schuss abgegeben. Die ganze Republik steht Kopf, und doch, und ach - warum lässt es uns so kalt?

"Hier geht es nicht um Juden oder Araber, sondern um Demokratie versus mörderischen Fanatismus, um Aufklärung versus Mittelalter, um Menschen- und Völkerrechte versus Märtyrer und Selbstmordattentäter." (Foto: Foto: AP)

Joachim Fest, Ralph Giordano, Rolf Hochhuth, Martin Walser, Walter Jens, Erich Loest, Dieter Wellershoff, Walter Kempowski geben ihr Verständnis, ihre Bestürzung, ihre Enttäuschung, selbst ihren Ekel zu Protokoll - keiner ist unter 75. Ein Klassentreffen der alten deutschen Intellektuellen, die über immer dasselbe Thema Auskunft geben wollen oder sollen: Hitler und ich.

Bitte keine Geständnisse mehr! Gibt es keine anderen Themen? Wo sind die Stimmen zu den aktuellen Fragen von Politik und Moral? Es wird Zeit, dass dieses Land sich endlich aus den Selbstbespiegelungen seines zwiebelhautengen NS-Diskurses befreit, dass man den Blick von der eigenen Nabelregion ab- und der Welt zuwendet.

Es wird Zeit, dass die hundertmal gepredigten Lehren der Vergangenheit endlich auf die Politik des 21. Jahrhunderts angewendet werden, bevor sie, ein Blick zurück zu Walser, nur mehr blinde Aggressionen erzeugen.

Es ist beschämend, dass die Affäre Grass innerhalb von drei Tagen mehr Wortmeldungen und moralisch gefestigte Standpunkte von deutschen Dichtern und Denkern produziert als der Krieg in Nordisrael und Südlibanon in den 33 Tagen davor.

Dabei war die Nahost-Debatte, weit gehend ohne große Namen, die ganze Zeit unüberhörbar vom Basston der deutschen Vergangenheit begleitet. Aber wie eine kaputte Schallplatte hängt sie bei der Beschwörung ,,Nie wieder Auschwitz'' fest - bekanntermaßen eine Leerformel, die mit wirklich allem gefüllt werden kann.

Betroffenheitspazifismus

Linke deutsche Friedensbewegte, die ihr ganzes Leben als Antithese zu ihren Nazi-Vätern oder -Großvätern entworfen haben, demonstrieren - wie im Juli in Berlin - Seit' an Seit' mit Arabern, die ,,Tod den Juden'' rufen. Das aber ist niemandem einen Skandal wert.

Man gefällt sich in Betroffenheitspazifismus, der im deutschen Wohnzimmer gewiss bequem, aber leider keine politische Haltung ist. Eine politische Haltung wäre, darüber nachzudenken, unter welchen Umständen sich Kriege nicht vermeiden lassen. Was hat Grass dazu zu sagen? Und was all die anderen? Auch der gut eingeübten Täter-Opfer-Umkehr wäre entgegenzutreten gewesen.

Die Fernsehbilder, die Schlagzeilen, der überwiegende Teil der veröffentlichten Meinung wollten uns doch weismachen: Israel ist so stark, so aggressiv, es gibt dort auch immer viel weniger Tote, also muss es ja irgendwie schuld sein. Aus Gründen der Vergangenheit sind wir Deutschen jetzt immer auf der Seite der Schwachen. Also bei der libanesischen Zivilbevölkerung. Die israelische Zivilbevölkerung ist ja in ihren Bunkern gut geschützt.

Wo aber waren die deutschen Intellektuellen, die gesagt hätten: Wir brauchen kein Auschwitz, um uns hier zu äußern? Wir sind auf Israels Seite, nicht, weil Nazideutschland sechs Millionen Juden ermordet hat, sondern weil Israel ein demokratischer Staat ist, mit Feinden, die nicht nur ihn, sondern alle demokratisch verfassten, westlich orientierten Gesellschaften vernichten wollen?

Um die Zukunft

Hier geht es nicht um Juden oder Araber, sondern um Demokratie versus mörderischen Fanatismus, um Aufklärung versus Mittelalter, um Menschen- und Völkerrechte versus Märtyrer und Selbstmordattentäter. Reden wir über die vereitelten Attentate von London, reden wir über unser Verhältnis zum Islam, reden wir über die Grenzen der Liberalität. Es geht um uns und unsere Zukunft.

Doch dafür haben unsere alten Herren keinen Sinn und keinen Mut. Sie bleiben bei ihren Lebensthemen. Es gab keine Prominentenliste für Israel, es gibt jetzt eine Prominentenliste gegen die Breker-Ausstellung (die Grass wiederum befürwortet).

Angesichts der immergleichen Reflexe, der immergleichen Debatten und Protagonisten bleibt für die Jüngeren in diesem Land kein Platz. Die Alten, die die Nazizeit noch erlebt haben, verstellen ihnen mit ihrem nicht endenwollenden Moralgeflatter die Sicht. Das ist das wahre Methusalem-Komplott.

Die Autoren sind Schriftsteller und leben in Berlin. Von Eva Menasse, 1970 geboren, erschien zuletzt ,,Vienna'', von Michael Kumpfmüller, 1961 geboren, ,,Durst'', beide bei Kiepenheuer und Witsch.

© SZ vom 17.8.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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