Die Suche nach Seelen:Gottesdienstleistungen

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Autosegnungen, Seglermessen, Motorrad-Taufen: Die Kirche sucht und findet ihre neue Klientel.

GERHARD MATZIG

Am Sonntag vor den niedersächsischen Sommerferien, die am 14. Juli beginnen, wird die katholische Kirche zurückschlagen. Dann werden in einem Gottesdienst in Hannover jene Kompaktvans, Dreiliterlimousinen und sonstigen automobilen Vierradvehikel (beziehungsweise deren Insassen) gesegnet, die zum alljährlichen veloziferischen Urlaubsstau fest entschlossen sind, dabei aber nicht allein auf den Beistand der gelben ADAC-Engel vertrauen möchten -- sondern auch auf den Zuspruch der himmlischen Heerscharen hoffen. Spätestens dann wird klar werden, dass der Kampf um die Flüchtigkeit mobiler Seelen vorerst immer noch so offen ist wie die Frage nach der Pendlerpauschale.

Motorradfahrer im Motorrad-Gottesdienst im Hamburger Michel (Foto: Foto: ddp)

Zwar konnte die evangelische Kirche am vergangenen Sonntag in Hamburg immerhin 35 000 Biker zum mittlerweile 22. deutschen Motorrad-Gottesdienst ("Mogo") versammeln und will an diesem Donnerstag anlässlich des größten Segelsportereignisses der Welt, der Kieler Woche, in einem Yachtclub zum Segler-Gottesdienst ("Sego"?) animieren; aber wenn es die Gegenseite im Juli schafft, die -- zahlenmäßig den Bikern und Seglern überlegenen -- deutschen Autofahrer für das Römisch-Katholische an der freien Fahrt für freie Gläubige zu interessieren, müssten die Protestanten schon sämtliche Billigflieger, Bustouristen und mindestens die Inhaber der BahnCard 50 ins Feld führen, um die aktuelle Konkurrenz spezifischer Schicht-Gottesdienste für sich zu entscheiden.

Der Wettbewerb der Glaubensgemeinschaften bleibt also erstens spannend. Zweitens aber kann man sich gerade in Zeiten eines aufblühenden gesellschaftlichen Form-Konservatismus fragen, ob die Kirchen in ihren bisweilen so libertären wie kuriosen Bemühungen um die Auflösung der (Gottesdienst-)Formen gut beraten ist. Sie ist es nicht. Das gilt für die katholische und für die evangelische Kirche. Und daran ändert auch die für sich schon denkwürdige Tatsache nichts, dass sich beide Kirchen-Unternehmen regelmäßig Rat von Unternehmensberatern und Werbeexperten holen, die dann zum Beispiel freudig erregt die Labelhaftigkeit und Markentauglichkeit des Kreuzes entdecken.

Ganz neu ist das Bemühen der Kirche nicht, die Leute "dort abzuholen", wo man sie in Kirchenkreisen offenbar bevorzugt vermutet, also beim Motorradfahren, beim Segeln oder einfach im Urlaub. Und eine deutsche Erfindung ist es auch nicht. Aus den sechziger Jahren und aus einer englischen Kirche stammt beispielsweise das Bild, auf dem ledergepolsterte Jungs -- und sogar die eine oder andere Motorradbraut -- der Predigt ergriffen lauschen. Diese besondere Helm-ab-zum-Gebet-Variante besitzt also durchaus Tradition und ist letztlich auch selbst nichts anderes als eine von vielen möglichen Varianten der Volksfrömmigkeit.

Tatsächlich ist die Liste gottesdienstlicher Kuriositäten lang. Unter der Rubrik "religiöses Gipfeltreffen" laden allein die protestantischen bayerischen Gemeinden 400 Mal im Jahr zu den beliebten "Berg-Gottesdiensten", durch welche die Zeitungen dann zu so schönen Titelerfindungen wie "Dem Himmel so nah" inspiriert werden. Zu berichten wäre aber abseits der Gipfelkreuze auch aus katholischen Niederungen: zum Beispiel vom "Lappen-Gottesdienst" für Führerscheinneulinge, der im letzten Jahr von einer Frankfurter Gemeinde auf einem Park-and-Ride-Parkplatz gefeiert wurde. Dazu gibt es Gottesdienste im Autoscooter (Bad Vilbel), auf dem Campingplatz (Hückeswagen) oder im ICE "mit Tempo 200" (zwischen Hamburg und Hannover).

Es gibt die Aktion "Vaterunser per SMS", es gibt Raver-Gottesdienste und solche für Inlineskater. Es gibt den "Fußball-Gottesdienst", die Kirche am Flughafen, im Stadion und längst schon die an der Autobahn. Es gibt Segnungen für Hunde, für Katzen und ganz allgemein für Haustiere aller Art. Eifrige Pfarrer begeben sich in die "Discos" (ohne zu ahnen, dass es diese nicht mehr gibt), und eifrige Pastoren begeben sich zu Thomas Gottschalk in die große Fernseh-Bibel-Show. Die wurde zu Ostern gezeigt und erheiterte durch die Ausstrahlung einer Umfrage, worin ein nettes, vielleicht 17-jähriges Mädchen die Frage nach der Anzahl der Zehn Gebote mit "sieben" beantwortete. Der frühere Ministrant Gottschalk konstatierte also zu Recht einen gewissen Informationsbedarf. Und die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann sprang ihm im Spiegel bei und konstatierte zugleich für den Gottesdienst: "Etwas Spaß darf sein."

Kurt Tucholsky konstatierte allerdings, im Jahr 1930, etwas ganz anderes: "Was an der Haltung beider Landeskirchen auffällt, ist ihre heraushängende Zunge. Atemlos jappend laufen sie hinter der Zeit her, auf dass ihnen niemand entwische." Genau dies ist der Eindruck, den die Kirchen wieder und wieder erwecken: Im Kampf gegen den Schwund ihrer Kirchenmitglieder und den Schwund ihrer Kirchensteuern setzen sie immer jappender und immer atemloser auf das größte Missverständnis von allen: auf das Zeitgemäßsein.

Dadurch betreiben sie auf einer formalen Ebene genau das, was Kirche eben nicht ausmacht -- das Geschäft der Formlosigkeit. Die Kirche mag sich über den Erfolg jenes Unternehmens namens "X-Treme Inflatables" freuen, das mit großem Erfolg aufblasbare Kirchen herstellt, die über einen Modeversand zu beziehen sind, 31 500 Euro kosten und wie aufgeblähte Kinderhüpfburgen aussehen. Was in der Freude über die Verkaufszahlen allerdings leicht untergeht: Solchen Kirchen kann man bequem die Luft auslassen. Indem die Kirche ihre Form zur Disposition stellt, stellt sie also ihre eigene Festigkeit zur Wahl: ihre allgültige Definition. Wäre man Biker, würde man zum Mogo gehen -- wenn aber nicht: dann nicht. Unbegreiflich in diesem Zusammenhang ist zudem, dass die Kirche nicht bemerkt, wie sehr sich die Menschen das Gegenteil solcher Maßschneiderei, die in Wahrheit Beliebigkeit von der Stange ist, ersehnen.

In manchen gesellschaftlichen Bereichen findet derzeit eine Form- und Werte-Diskussion statt. Das betrifft mal die Künste, in denen die "Gegenreformation der Theater-Traditionalisten" oder die Kunst "neoklassizistischer Bauweisen" beschworen werden; mal betrifft es nur die Schul-Uniformen, mal auch die "Grundwerte". Mal wird diese Diskussion gründlicher, mal reflexhafter geführt. Worauf es aber ankommt: Ausgerechnet die Kirchen als Erfinder dessen, was man im besten Sinne als einen formal und inhaltlich zur Deckung kommenden Wertekonservatismus bezeichnen könnte, scheinen von dieser Debatte ausgeschlossen zu sein. Sind aber die Gläubigen nicht womöglich auch deshalb auf der Flucht, weil die Kirchen ihnen so sehr hinterherlaufen?

© SZ vom 21.6.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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