Die Sache Stadelmaier:Übel mitgespielt

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Ein Mann ist gefoult worden, und weil er laut und vernehmlich "Aua" gesagt hat, wirft man ihm Humorlosigkeit vor und tritt nach. Aber wie weit darf denn Theater nun gehen?

Christopher Schmidt

Es war ein Telefon, das die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zog. Obwohl die Vorstellung längst hätte beginnen müssen und die Zuschauer allmählich unruhig wurden, weil das Telefon auf der Bühne klingelte, tat sich nichts. Bis ein Zuschauer nach oben ging und abhob. Am anderen Ende der Leitung hörte er die Stimme des Intendanten, der maliziös erklärte, man warte vergeblich auf die Schauspieler. Sie würden heute nicht spielen.

Wie weit darf Theater gehen? Thomas Lawinky bei der Probe zu dem Stück Publikumsbeschimpfung im Jahr 2004 in Hamburg (Foto: Foto: dpa)

Diese wahre Begebenheit einer perfide inszenierten Brüskierung des Publikums trug sich vor vielen Jahren auf einer deutschen Staatstheaterbühne zu. Zugleich wandelte sie einen Gag ab, den sich der Dramatiker Tom Stoppard erlaubt hat. Sein Stück "Der wahre Inspektor Hound" beginnt damit, dass zwei Theaterkritiker durch ein läutendes Telefon auf die Bühne gelockt und erschossen werden - offenkundig eine Wunschphantasie des Theaterautors.

Der Theaterkritiker Georg Hensel erwähnt Stoppards Kritiker-Massakerspiel in einer Kolumne, die er in den frühen siebziger Jahren, der Hochzeit des Mitspiel-Theaters, geschrieben hat. Hensel, der Amtsvorgänger von Gerhard Stadelmaier bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, nennt in seiner Glosse mit dem Titel "Ich spiele nicht mit" ebenso unaufgeregt wie triftig die Gründe, warum er ungern in die Geschehnisse auf einer Theaterbühne einbezogen wird.

Einerseits sei es eine Frage des Taktgefühls, sich nicht in die Angelegenheiten des Autors zu mischen, andererseits dürfe der Verbraucher mit einem gewissen Recht verlangen, dass man Stücke ohne seine Mitwirkung zu Ende bringe. Ein Kindheitstrauma, natürlich.

Seit der nachmalige Großkritiker einmal als kleiner Junge das Versuchskaninchen eines Zauberkünstlers war, der ihn für aller Augen unsichtbar machte, plagte ihn die Sorge, man könnte ihn auf der Bühne wegzaubern, wohl wissend: "das Angenehmste, was vom aktivierten Zuschauer zu erwarten ist: er verschwindet". Wie viel mehr gilt das für den professionellen Zuschauer, den Kritiker.

Dass der gern als Berufsprovokateur apostrophierte Christoph Schlingensief an den Eklat um den FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmaier sogleich die Hoffnung knüpft, solch ein Abwehrzauber könne auch in umgekehrter Richtung funktionieren, ist wenig überraschend. Stadelmaier habe sich "entzaubert", so Schlingensief, als dieser sich mit seinem Performance-Bericht "von einer Attacke auf mich" ins publizistische Rampenlicht stellte.

Die Affäre um den sagenumwobenen Spiralblock, der dem Kritiker während einer Vorstellung entrissen wurde und von dessen Verletzungspotenzial sich die Republik offenbar ein unzureichendes Bild macht, hat die Öffentlichkeit in erwartbarer Weise gespalten und zu einem vorhersehbaren Schulterschluss der Theaterleute geführt.

Es hagelt Solidaritätsadressen, die den Schauspieler Thomas Lawinky zu einem Märtyrer der Kunstfreiheit stilisieren. Claus Peymann bot dem Schauspieler, von dem sich das Schauspiel Frankfurt wegen seines Übergriffs getrennt hat, medienwirksam "Asyl" in seinem Berliner Ensemble an.

Auch das Wiener Rabenhoftheater surft auf dem PR-Trittbrett des Vorfalls. Es weitet seine "Auszeichnung für herausragendes Fehlverhalten im Theaterwesen" aus aktuellem Anlass auf das Nachbarland aus und schlägt Stadelmaier wegen Schauspieler-Mobbings für den Preis des "ersten deutschen Theaterarschs" vor; die Frankfurter Intendantin Elisabeth Schweeger ist für den Nebenpreis in der Kategorie Opportunismus als "Theateroarscherl" nominiert.

Das sind eklatante Beispiele einer gespenstischen Tätereinfühlung: Ein Mann ist gefoult worden, und weil er laut und vernehmlich "Aua" gesagt hat, wirft man ihm Humorlosigkeit vor und tritt nach. Dabei sollte es unstrittig sein, dass nicht Stadelmaier, sondern Lawinky dem Theater erheblichen Schaden zugefügt hat.

Denn auch da, wo es zum Spiel gehört, aus der Rolle zu fallen, sind darum nicht alle Regeln außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil: Es handelt sich hier um einen erweiterten Rollenbegriff, in dem der Schauspieler darauf vorbereitet sein muss, dass Zuschauer sich der Mitwirkung verweigern.

Aber auch auf der anderen Seite formieren sich die Kräfte, die dem gedemütigten Kritiker beispringen - mit nicht minder abwegigen Äußerungen. So forderte der gewesene Berliner Kultursenator Christoph Stölzl eine Art UN-Charta für Zuschauerrechtsverletzungen. Es gehöre zur "Grundvereinbarung" des Theaters, dass Zuschauer "unbehelligt" bleiben.

Stölzl spricht ein triviales Wort gelassen aus. Aber dass er das Selbstverständliche zu wiederholen für nötig hält, zeigt, wie sehr er sich den Standpunkt Stadelmaiers zu Eigen gemacht hat. Dieser hatte argumentiert, der Kontrollverlust des Schauspielers sei von öffentlicher Relevanz, weil er in der "strukturellen Logik" eines Theaters liege, das zu immer drastischeren Mitteln greifen müsse, um noch zu provozieren.

Stadelmaier beschwört das irreführende Bild einer Gewaltspirale, und sein Gestus erinnert an die Warnungen aus den sechziger Jahren, wer Beat-Musik höre und sich nicht die Haare schneide, nehme auch Drogen.

Ihre Grenzen zur Nicht-Kunst aufzuweichen, um das Publikum in unmittelbarer Weise zu erreichen, ist das älteste Spiel der Kunst. Die Uraufführung von Pirandellos Stück "Sechs Personen suchen einen Autor" sorgte 1921 für einen beispiellosen Theaterskandal, weil der Autor eine doppelte Fiktion einführte: Die Zuschauer sahen nicht Schauspieler, die ein Stück aufführen, sondern Schauspieler, die Schauspieler spielen.

Peter Handke hat das Überraschungsmoment Jahrzehnte später in seiner "Publikumsbeschimpfung" nicht weniger provozierend umgedreht - und es ist wohl kein Zufall, das der Regisseur des Frankfurter Eklat-Stücks, Sebastian Hartmann, vor kurzem auch dieses inszeniert hat.

Doch auch die Aufhebung der "vierten Wand", die Entgrenzung des Spiels hat sich abgenutzt, schließlich kann man nur innerhalb bestimmter Regeln gegen diese verstoßen. Dass die Aufforderung ans Publikum, sich am Geschehen auf der Bühne aktiv zu beteiligen, nicht nur als folkloristische Reprise der Avantgarde überleben konnte, hat auch mit einem Phänomen zu tun, das man mit einem Begriff aus der Naturwissenschaft als Emergenz bezeichnen könnte. Das Theater wuchert mit seinen Pfunden, wenn es die Neugier auf das Unvorhersehbare bedient. Es betont und steigert dadurch seine Live-Qualitäten.

Gleichwohl bewegt sich die Öffnung für den Einbruch des Unkontrollierten in um so kontrollierteren Bahnen. Wer daher meint, spielerische Entgrenzung leiste einer Gewalteskalation Vorschub, verkennt die Differenz, die er gewahrt wissen will: Dass die Bretter nicht die Welt sind, sondern sie nur bedeuten. Aus diesem Missverständnis sprechen die konservativen Reinigungsphantasien jener, denen "die ganze Richtung nicht passt", um es mal mit den Worten auszudrücken, mit denen die Zensurbehörde seinerzeit Hauptmanns "Die Weber" untersagte.

Genauso wie Stadelmaier seine Gefährdungssituation dramatisiert, um seine Überreaktion zu rechtfertigen, wird die Drohkulisse der Theaterentgrenzung benutzt, um den Vorfall theaterpolitisch auszubeuten. Ohne in dem Übergriff einen exemplarischen Vorgang zu erkennen, hätte sich der Aufschrei, die Pressefreiheit sei bedroht, sofort erledigt.

Dass ein Kritiker seine persönliche Kränkung dergestalt in die Öffentlichkeit trägt, ist aber seinerseits ein Missbrauch der Öffentlichkeit und verschleiert den banalen Sachverhalt, dass hier bei einer entgleisten Theaterpremiere eine Privatperson von einer anderen beleidigt wurde.

Um nicht dem Zufall die Abendregie zu übertragen, wollte Stadelmaiers Vorgänger bei Theaterereignissen nicht mitwirken. Tom Stoppards Kritiker-Komödie endet übrigens mit der Pointe, dass der falsche Inspektor, der die Theaterkritiker erschießt, selbst Theaterkritiker ist und gleichfalls erschossen wird. Und das "mit Recht", schreibt Georg Hensel, weil Kritiker auf einer Bühne nichts zu suchen haben. Auch nicht auf der, die sie sich selber bauen.

© SZ vom 22.2.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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