Die neuen Kuratoren:Rette uns, wer kann

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Vor zehn Jahren galt der DJ noch als Inbegriff der Moderne, nun will sich jedermann als Kurator verstehen. Von den heiligen Hallen der Museen über die banalen Warenlager des Einzelhandels bis in die Welt der Bits und Bytes: Sie verbreiten sich schneller als Bakterien auf einem alten Küchenlappen. Können sie uns Ruhe verschaffen?

Jan Füchtjohann

Als YouTube vor einigen Wochen eine Stelle im Marketing ausschrieb, suchte das Videoportal auf gar keinen Fall einen Manager. Man wollte schließlich jemanden auf der Höhe der Zeit, eine Person, "die erkennt, wie sich auf YouTube Trends entwickeln und die anhand dieser Trends erklären kann, wie das Internet die Gesellschaft verändert". Pioniere also, Bahnbrecher, Vorreiter, Pistensucher - aber bitte keine Manager. Glücklicherweise hatten die Dichter aus der Personalabteilung noch einen besseren Titel parat: Sie suchten einen "Curator".

Kann vielleicht auch nicht den ganzen Müll für uns loswerden, ist aber zumindest eine echte Kuratorin: Romina Schiavone im Römer Museum in Xanten mit einer 1750 Jahre alten Fußfessel. (Foto: dpa)

Einen Kurator also. Schon die New York Times hatte sich vor einiger Zeit gewundert: Warum verkaufen Szeneläden in Houston plötzlich nicht mehr bloß Schuhe, Bücher und Musik, sondern zeigen eine "kuratierte Produktauswahl" auf ihrer Website? Weshalb lassen Flohmarktveranstalter in Brooklyn nicht einfach Imbissbuden aufs Gelände, sondern geben an, sie persönlich würden "das Speiseangebot kuratieren"? Und weshalb kann man im Netz lesen, ein Blogger habe durch seine Videoauswahl "die Erlebnisse japanischer Erdbebenopfer kuratiert"?

Die Antwort der Times lag nahe: Designer, DJs, Partyveranstalter, Blogger und Ladenbesitzer sagten eben "kuratieren", wenn sie "wählen", "aussuchen" und "präsentieren" meinten. Das sei ihr Code, um mitzuteilen: "Ich habe einen herausragenden Geschmack." Ein Linguist erklärte, dass man sich auf diese Weise eben ein bisschen aufbläst: "Man deutet an, dass eine Ähnlichkeit besteht zwischen dem, was man selber tut, und dem, was jemand mit Universitätsabschluss in einem Museum tut."

So weit, so offensichtlich. Die endgültige Befreiung des Kurators aus der Museumswelt versucht ein in diesem Jahr erschienenes Buch: "Curation Nation", von dem Internet-Unternehmer, Filmemacher und (selbstverständlich) Kurator Steven Rosenbaum (Curation Nation: Why the Future of Content is Context and How to win in a world where Consumers are Creators" McGraw Hill, New York 2011).

Auch Rosenbaum zeigt erst mal, dass sich "Kuratoren" zur Zeit schneller und unkontrollierter verbreiten als Bakterien auf einem alten Küchenlappen. Danach erklärt er, worum es ihm geht: "Wenn Kunstwerke und vielleicht auch Schuhe oder sogar Damenunterwäsche kuratiert werden, ist das im Grunde nichts Neues. Dieser Trend reicht heute von den heiligen Hallen der Museen bis in die banalen Warenlager des Einzelhandels. Dabei geht es aber immer nur darum, in der echten Welt echte Dinge zu sortieren. Wirklich neu ist das Kuratieren dagegen in der Welt der Bits und Bytes im World Wide Web." Der Grund: Wir ertrinken bald alle in einem "Daten-Tsunami". "Von Beginn der Zivilisation an bis zum Jahr 2003", zitiert Rosenbaum Google-CEO Eric Schmidt, "wurden etwa fünf Exabyte Information produziert. So viel entsteht heute alle zwei Tage. Und die Geschwindigkeit nimmt weiter zu."

Da könnte man natürlich versucht sein, sich mit einem Stapel Bücher in den Wald zurückzuziehen - aber Ignoranz ist keine Lösung. Hier kommen deshalb die Kuratoren ins Spiel: Als Menschen, die wie eine Art Reader's Digest fürs digitale Zeitalter die zunehmend überwältigende Masse der Inhalte filtern, die sich mutig zwischen uns und den ohrenbetäubenden Lärm, den bunt flackernden Wahnsinn und die einen bis zur Übelkeit vollstopfenden Füttermaschinen stellen, ihre Auswahl treffen und diese in einem hellen, ruhigen, zur Kontemplation einladenden Raum präsentieren. Helden also, die uns vor dem Chaos retten.

Eines ist damit wenigstens schon mal klar: Warum man heute nicht mehr so viel über die dem Kurator eigentlich verwandten DJs redet. In den 90er Jahren war die sogenannte DJ Culture der größte Metaphern-Selbstbedienungsladen: Wenn man nicht mehr weiter wusste, sprach man einfach vom "Kultursampling".

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Damals war gerade der Kalte Krieg zu Ende, und auch die Geschichte schien langsam müde zu werden. Aber statt einfach ins Bett zu gehen, wollten viele noch einmal alles aufmischen und die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Genau das ist das Problem. Denn wenn Rosenbaum recht hat und mittlerweile alle in einem Datenmeer ertrinken, mit Spam-Mails, tausend falschen Freunden auf Facebook und Millionen Tweets bis zum Morgengrauen - dann sind die meisten einfach nur noch müde, und nichts kommt für sie ungelegener als ein DJ, der die Lautstärke hochfahren möchte. Stattdessen sehnen sie sich nach der Strenge eines Kurators, der den ganzen Müll für sie loswird. Sie brauchen keine Ekstase, sie wollen ihre Ruhe.

Die Frage ist nur, ob immer mehr Kuratoren ihnen diese Ruhe verschaffen können. Suchmaschinen, da hat Rosenbaum recht, schaffen das sicher nicht. Denn schließlich ist ein guter Kurator ja gerade nicht berechen- und vorhersehbar. Fragt man zum Beispiel Hans-Ulrich Obrist, einen der mächtigsten Ausstellungsmacher im Kunstbetrieb, warum er sich denn gerade für diesen und keinen anderen Künstler entschieden hat, sagt er, ihn interessiere "das ganz andere Zeitkonzept". Das kann selbst Google nur schwer in einen Algorithmus fassen.

Überhaupt Obrist. Oder Klaus Biesenbach, "Curator at large" des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA). Man hat bei der Lektüre von "Curation Nation" das Gefühl, der Netz-Großdenker hätte sich nicht wirklich mit den neuen Superkuratoren aus der Kunst beschäftigt. Vielleicht sind sie ihm mal auf einer Ideenkonferenz begegnet. Oder im Flugzeug. Denn oberflächlich passen die beiden globalen Eliten ganz gut zusammen: Wie die Internetdenker haben auch die Superkuratoren Ideen. Außerdem sind beide Vielflieger und Netzwerker.

Obrist beschäftigt eigens drei Praktikanten, um seine vielen Einfälle auszurecherchieren. Er fliegt erst 10 000 Kilometer nach Osten, um eine Kunstmesse in Hongkong zu besuchen, macht einen Zwischenstopp in London und fliegt dann 10 000 Kilometer nach Westen für ein Interview in Brasilien. Derweil stellt Biesenbach auf einer MoMA-Party deutschen Automanagern die John-Lennon-Witwe Yoko Ono vor, bringt den New Yorker Geldadel mit seinen Lieblingskünstlern ins Gespräch und gibt dem "koreanischen Wundergeiger" Hahn-Bin die geheime Handynummer seiner guten Freundin Madonna. Eine New Yorker Zeitung verlieh ihm für diese Leistungen das Ehren-Adjektiv "Übersocial".

Wirklich verstehen werden sich beide Milieus am Ende nicht. Denn während die Netzgemeinde ständig in die nächste oder übernächste Zukunft aufbricht, müssen Kuratoren, solange dieser Titel auch nur irgendwie einen Sinn ergeben soll, Sorge um die Vergangenheit tragen. Zwar werden die Pfleger historischer oder ägyptologischer Sammlungen selten Stars. Zwar drischt der Autodidakt und Gemeinplatzwart Biesenbach gern ungeheuer zeitgenössische Phrasen, die auf alles und jedes passen: "In unruhigen Zeiten wie jetzt, da im Nahen Osten mächtige Umbrüche stattfinden, China sich rasant entwickelt ebenso wie Russland, scheint ein solches Projekt nicht nur enorm spannend, sondern auch enorm wichtig zu sein."

Trotzdem können auch solche DJ-Kuratoren das Historische nur entleeren, aber nicht abwerfen. Denn genau das macht ja ihre Macht aus: Dass sie einen unbekannten Künstler "entdecken" und in eine Reihe mit Michelangelo, Van Gogh und Picasso rücken können. Nur solange sie als die Türhüter zur Geschichte erscheinen, macht ihre Entscheidung aus einem Stück Leinwand pures Gold.

Damit wäre auf das geradezu mathematische Problem verwiesen, das auftaucht, wenn wir bald wirklich in einer "Curation Nation" leben, wenn immer mehr Menschen Kuratoren werden, vom Flohmarktveranstalter über die neuen Internet-Unternehmer. Es gibt dann nämlich auch eine immer größere Anzahl "kuratierter Sammlungen", zwischen denen man sich entscheiden muss, und damit ist der Ordnungsgewinn schnell wieder verspielt.

Denn wenn keine Sammlung mehr auch nur annähernd die Autorität der einen und wahren Geschichte hat, wenn es nicht das, sondern Millionen Museums of Modern Art gibt, dann gibt es eben viele Geschichten und alle sind im Kontext falsch und unvollständig. Die alte Verwirrung und Unübersichtlichkeit wäre wieder hergestellt. Und wurde sogar verschärft.

© SZ vom 23.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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