Die neue Bohème:Arbeit tötet

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Eine Branchenmesse für Menschen, die Branchenmessen verabscheuen: Die digitale Bohème diskutiert in Berlin über ihre Zukunft: Ist Arbeit ohne Festanstellung besser als Sex?

Jens Bisky

Muss das alles so brav sein, mochte sich mancher fragen, der zwischen drei und vier Uhr morgens das "Radialsystem" verließ, jenes alte Pumpwerk an der Spree das gläsern ergänzt und zu einem Ort für Kunst und anderen Schabernack ausgebaut worden ist. Drei Tage traf sich dort die digitale Bohème zu einer Branchenmesse für Menschen, die Branchenmessen verabscheuen.

(Foto: Foto: oh)

Auf der Sonnenterrasse oder dem Deck saßen sie vor aufgeklappten Laptops, plauderten, sahen ab und an hinüber auf die Verdi-Zentrale, wo in Riesenlettern für einen Mindestlohn geworben wird. Der Mond stand über den Dächern wie in einer barocken Opernkulisse. An dieser Stelle entfaltet Berlin seinen ganzen Charme: vorne Strand und hinten Bahnhof, Kurstadt und Großstadtdschungel in einem.

Wildes Treiben?

Es konnte passieren, das man zufällig jenen Blog las, den die Nachbarin gerade schrieb. Filme liefen, Bands spielten. Genug junge freiheitsdurstige Kreative waren gekommen, um von neun Uhr abends bis fünf Uhr morgens über eine neue Arbeitskultur zu sprechen und diese auch zu erproben. Partystimmung kam kaum auf. Nichts erinnerte an das wilde Treiben der Bohèmiens, von dem Festangestellte gerne träumen. Die Mehrheit ließ sich lieber die Feinheiten des Kulturjournalismus, die Tücken des Steuerrechts oder erfolgreiche Geschäftsideen erklären - als enthemmt draufloszufeiern. In ihrer entspannten Ernsthaftigkeit glich die Atmosphäre der Stimmung auf den Sommerakademien einer Schwerstbegabtenstiftung.

Gerade die erschlagende Bravheit des heiteren Treibens war ein großer Vorzug. Als Kathrin Passig im vergangenen Jahr den "Ingeborg-Bachmann-Preis" gewann, wurde die "Zentrale Intelligenz Agentur" (ZIA) zu einem Liebling derer, die fürchteten, einen Trend zu verpassen. In ihrem Buch über ein "intelligentes Leben jenseits der Festanstellung" fanden Holm Friebe und Sascha Lobo neue Begriffe und Bilder für ein selbstbestimmtes Dasein. Sie erzählten Geschichten von jenen, die arbeiten, wie sie leben wollen und trotzdem ausreichend Geld damit verdienen können.

Goldene Zwänge

Das Buch hatte Erfolg, der misstrauisch stimmte, zumal Angestellte, die sonst Leistung und Karriere priesen, plötzlich von Selbstständigkeit und Bohème schwärmten wie von einem Cluburlaub. Wurden da nicht lediglich die Zwänge prekärer Existenz vergoldet, die Abhängigkeit von wechselnden Auftraggebern und Zufällen zum Bild der Freiheit verklärt? War das mehr als eine der ironischen Inszenierungen, die der Meinungs- und Unterhaltungsbetrieb immer wieder mal braucht, um im Bericht über die Abweichung die Norm zu bestätigen?

Nach dem dreitägigen Festival "9 to 5 - Wir nennen es Arbeit" stellen sich die Fragen neu und in anderer Gestalt. Kleiner will man es nicht mehr haben. Was hier geschah, war allemal aufregender als die Bessere-Welt-Erregung während des G-8-Gipfels. Die Gesten bekamen Substanz und mit der Formel vom "linken Neoliberalismus" ein Etikett, das zwar vielen nicht gefiel, aber das Spannungsfeld gut beschreibt, in dem die digitalen Bohèmiens sich bewegen.

Ein Sponsor war zuvor abgesprungen, weil ihm das Programm zu antikapitalistisch schien. Die Besserwisser von der Jungen Welt witterten Propaganda für eine durchgehende Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse. Und beide hätten während der drei Tage reichlich Belege für ihre Vorurteile finden können.

Hört auf zu konsumieren!

"Work kills", stand auf dem T-Shirt, das der englische Literaturwissenschaftler Tom Hodgkinson unter seinem hellen Anzug trug. Einer UN-Statistik zufolge sterben jährlich zwei Millionen Menschen an den Folgen ihrer Arbeit. Gegen protestantische Leistungsethik und den lebensfeindlichen Slogan "Zeit ist Geld" bot Hodgkinson auf, was Romantiker und Anarchisten über das Elend der Industriegesellchaft geschrieben haben. Wie John Ruskin verklärte er das Mittelalter, um in einem Manifest schlussendlich "Anarchy in the U.K." zu fordern: "Tod dem Supermarkt. Backt Brot. Spielt Ukulele. Hört auf zu konsumieren!"

Die Technikverdrossenheit missfiel den Kreativen, die glauben, ihre Freiheit W-Lan und Internet zu verdanken, ebenso sehr wie ihnen das Lob des Müßiggangs behagte. Als Herausgeber des Magazins The Idler verdient Hodgkinson sein Geld.

Zur Weiterentwicklung der Technologie forderte ganz ausdrücklich der Philosoph Frithjof Bergmann auf, dessen Rhetorik, halb an die hohe Sittlichkeit der Arbeiterbildungsvereine, halb an das Weltrettungspathos der 68er erinnernd, einfach mitriss. Arbeit sei für die meisten eine "milde Krankheit", einer Erkältung vergleichbar. Es gehe darum herauszufinden, was einer "wirklich, wirklich will", um dann in kleinen Gemeinschaften, alle Möglichkeiten der Technologie nutzend, "neue Arbeit" zu schaffen. Sie könne wenigstens so befriedigend und erfüllend sein wie sehr, sehr guter Sex.

Arbeit oder Müßiggang? Zeitlebens von 9 bis 17 Uhr die Zeit im Büro totschlagen und den Weisungen frustrierter Chefs folgen, die Stunden bis zum Urlaub und der Rente zählen, um dann das eigentliche Leben zu beginnen? Mit dem Problem hat sich der deutsche Idealismus in seinen Sternstunden herumgeschlagen: Friedrich Schiller in seinem Hohelied auf das Spiel und der entlaufene Enkel Marx in seiner Kritik der Entfremdung.

Süßes Gift

Was ist gelingendes Leben? Was Glück? Was Freiheit? Noch der Workshop über Projektmanagement oder eine Diskussion über das Schicksal "Kleiner Labels" fanden vor dem Hintergrund dieser Fragen statt, als wolle man mit Macht demonstrieren, dass man keinen Anspruch aufzugeben bereit sei, aber auch nicht in Depression über den Weltlauf erstarren werde. "Das süße Gift der Selbstbestimmung", wie Holm Friebe es nannte, wirkt fort.

Eben dadurch sind die neuen Bohèmiens, die nicht mehr so genannt werden wollen, mit den Vordenkern des "Turbokapitalismus" innig verbunden. Den Horror der flexiblen, selbstbestimmten Arbeitswelt, den der Soziologe Richard Sennett eindrücklich beschrieben hat, begreifen sie als Möglichkeit zur Autonomie. Sie vergötzen Eigenverantwortung und Erfolg wie der schlimmste und demagogischste Unternehmensberater. Zahlreich waren die Erfolgsgeschichten, etwa die von Régine Debatty, die mit ihrem Blog "we-make-money-not-art.com" zunächst Werbeeinnahmen verbuchen konnte, dann zur gefragten Expertin wurde und den Eindruck erzeugte, als habe sie auf ihr Geschick und glückliche Zufälle vertraut.

Die Journalistin Mercedes Bunz versuchte in einem wunderbar witzigen, hellsichtig aufgeklärten Vortrag daraus politische Konsequenzen zu ziehen. Der "Neoliberalismus" sei nicht etwas, das drohe, das man abwählen könne. Die gesamte Gesellschaft werde bereits nach dem Muster eines Unternehmens gestaltet. Gegen die Ideologen von SPD und Linkspartei, die alle am Kerker der Vollbeschäftigung und der Leistungsgesellschaft festhalten wollen, gelte es, "linke" Geschichten vom "unternehmerischen Selbst" zu setzen.

Noch ist unentschieden, ob es um die Interessenvertretung einer neuen Schicht oder um die Avantgarde eines freieren Lebens oder um beides geht. Aber das große europäische Erbe der Kapitalismuskritik wird derzeit nirgendwo besser gepflegt als im Umkreis der "digitalen Bohème". Man denkt über die Gründung dezentraler Intelligenz-Agenturen nach.

© SZ vom 27.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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