Die Kritik:Vorgeschmack auf Großes

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Gergiev und der blinde Pianist Nobuyuki Tsujii mit Beethoven

Von Klaus P. Richter, München

Kann man das Programm des Philharmoniker-Konzerts politsymbolisch verstehen? Zuerst Karl Amadeus Hartmanns zweite Sinfonie von 1946, dann die Neunte von Schostakowitsch von 1945 und schließlich das fünfte Klavierkonzert von Beethoven: zwei Sinfonien als musikalische Reflexion nach der Weltkriegskatastrophe und ein Konzert gegen Napoleon, den europäischen Imperator, der Beethovens Freiheitsidee verraten hat?

Deutet man es so, dann ist Hartmanns sinfonisches Adagio in einem Satz eine dunkle Trauerarbeit und Schostakowitsch eine doppelbödige Parodie auf den Sieger Stalin. Valery Gergiev verstand es, mit den hoch motivierten Münchner Philharmonikern im Gasteig die introvertierte Trauer aus dem Beginn von Hartmanns Sinfonie in den grellen Ausbruch des Maestoso-Mittelteils über das Allegro con fuoco mit kontrollierter Dramaturgie zu steigern - um sie dann wieder in die dunkle Verhaltenheit des Anfangs zurückzuführen. Dabei entfaltete das riesig besetzte Orchester eine fast impressionistische Farbigkeit mit Klangspezereien von Celesta, Vibrafon, Harfe und Baritonsaxofon. Schostakowitsch hingegen servierte dem siegreichen Diktator statt einer erwarteten Siegessinfonie ein ironisches Scherzando mit klassizistischem Flair samt deftigem "einen Jux will er sich machen" und entfachte damit prompt einen Skandal. Nur im Moderato-Satz sorgte Gergiev für verhaltene Tragik mit dunklen Holzbläserkantilenen wie im Largo mit dem Fagott-Rezitativ. Aber im Finale war man wieder bei der Parodie und endete in aufgekratzter Zirkusmusik.

Dann aber war bei Beethoven Schluss mit Parodie und klassizistischem Schalk. Denn mit dem blinden Japaner Nobuyuki Tsujii betrat ein Klaviergenie die Bühne, das dem Format eines echten Klassikers gerecht wurde. Wer sich bange fragte, wie die Kommunikation zwischen ihm und dem Dirigenten funktionieren sollte, wurde schnell überzeugt: nicht mit Telepathie, sondern mit dem Grundprinzip jedes gemeinsamen Musizierens, nämlich sensibel aufeinander zu hören. Das allerdings gelang mit staunenswerter Vollendung, von den heiklen Dialogen im Allegro bis zur ergreifenden H-Dur-Lyrik des Adagios und bescherte ein großartiges Beethoven-Erlebnis.

© SZ vom 06.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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