Deutsche Popmusik:Tausend Tränen tief

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Alles löst sich auf: Blumfeld gehen, Tocotronic kapitulieren, der deutsche Pop-Rest will bloß bleiben. Die Stimmen des kritischen linken Bewusstseins werden immer leiser, Grönemeyer und Konsorten brüllen immer lauter.

Dirk Peitz

Es ist vorbei, und es hat gar nicht weh getan. Der Wind zog an jenem Abend in die Hamburger Innenstadt, vertrieb die Tageshitze und brachte kühlen Regen mit, im Schanzenviertel mussten sie ihre Bierflaschen schnell unter den Markisen in Sicherheit bringen, an der Roten Flora hingen handbemalte Anti-G-8-Bettlaken von der bröckelnden Fassade, Heiligendamm war noch etwas hin, eine Chiffre erregter Erwartung, und am Ende des Abends, der Wind war wieder abgeflaut, war Sankt Pauli in die Zweite Bundesliga aufgestiegen. Auch: mal wieder.

Tocotronic. (Foto: Foto: Universal)

Zwischendrin spielten Blumfeld ihren letzten Ton. Abschiedskonzert der Abschiedstour. In der Fabrik an der Barnerstraße stand die Luft, da konnte kein Wind dazwischen fahren, es wurde heißer und heißer, drei Stunden ging das Konzert, das allerletzte von zwei letzten in Hamburg. Noch einmal all die Lieder, "Tausend Tränen tief", "Die Welt ist schön", "Verstärker", der vielleicht größten kleinen, vielleicht nervigsten tollen deutschen Popgruppe der letzten zwei Jahrzehnte. Es endete in Hamburg, wo alles begonnen hatte in den späten achtziger Jahren, als plötzlich diese Jungs in ihren Bands mit den Gitarren und den deutschen Texten...

Kann sein, dass der Abschied von Jochen Distelmeyers Band so leicht fiel, weil er schon so lange angekündigt war; andere verschwanden stiller, Stella etwa, oder gibt es die sogar noch? Blumfelds Musik fühlte sich zuletzt auch eher wie eine Flucht nach Nirgendwo an, das ästhetische Programm schien aufgezehrt zu sein, das nach der Logik des Blumfeld-Songs "Mein System kennt keine Grenzen" funktionierte.

Zwischen Demo-Clowns und Henna-Hippies

Distelmeyer führte die Seinen aus dem Tal des Postpunk hinauf zum Große-Gesten-Pop und immer weiter weg, schließlich zum Folk des letzten Albums "Verbotene Früchte". Die Obstlyrik darauf war dann vielleicht doch zuviel, zu weit draußen. Selbst für die, die den ganzen Weg mit Distelmeyer gegangen waren, der immer auch als ein Abwehrkampf des um Autonomie ringenden Künstlers gegen all die gut gemeinten Unterstellungen erschien.

Distelmeyer verschwand ohne eine Träne von der Bühne, und eine Stunde später schon pustete er frisch geföhnt und gut gelaunt die Kerzen aus auf der Abschiedstorte, die sie bei der After-Showparty hereintrugen. Im Freischwimmer war das. Der Name der Bar mochte sowenig ein Zufall sein wie die Straße, an der sie liegt, weil ja nie etwas zufällig sein konnte bei Blumfeld. Die Bar liegt an der Fruchtallee.

Dann kam der Tag, an dem in Heiligendamm die Demo-Clowns und Henna-Hippies bis an den Zaun vorrückten und Herbert Grönemeyer, die Fantastischen Vier und der ganze wohlmeinende Rest des Deutschpop gegen den Gipfel anspielten. Dirk von Lowtzow, der Sänger von Tocotronic, saß weit weg, auf der Außenterrasse des Pavilloncafés "Schönbrunn" im Volkspark Friedrichshain, im Schatten eines Sonnenschirmes. Kann auch kein Zufall sein: Grönemeyer beschwert sich vor Ort, bei den Lenkern der Welt, und von Lowtzow trinkt in Berlin Kaffee.

Unflexibel, unproduktiv, nutzlos

Blumfeld und Tocotronic, das waren bei allen Unterschieden in den letzten Jahren die beständigsten und populärsten Träger dessen, was man kritisches linkes Bewusstsein nennen mag in der deutschsprachigen Popmusik. Nun gibt es die eine Band nicht mehr, und die andere ruft mit ihrem soeben erschienenen, achten Album die "Kapitulation" aus.

Die Wortwahl klingt zunächst mal furchterregend, fast unangemessen für eine Popgruppe. So wie ein letzter Abwehrreflex auf die Gegenwart: Was tun, wenn man keinen Platz mehr findet? Wenn man sich umzingelt fühlt von Feinden, dem sogenannten Neoliberalismus, all den Wohlmeinenden, die auf der gleichen Seite zu stehen behaupten wie man selbst.

Wo ist noch Platz zwischen Grönemeyer, Demo-Clowns und Henna-Hippies, die ja mindestens ein ästhetisches Problem haben in ihrem "kreativen" Dagegensein; wo ist Platz zwischen autonomer Gewalt und altlinker Phraseologie, zwischen dem an seiner eigenen Buntheit besoffenen altgrünen Kulturenkarneval und den gutgelaunt prekären Selbstausbeutern und ihrer Laptopisierung allen öffentlichen Raums, gerade in Berlin.

Seite 2: Tocotronic einsam und auf verlorenem Posten.

Dirk von Lowtzow singt: "Und wenn du kurz davor bist / Kurz vor dem Fall / Und wenn du denkst / Fuck it all / Und wenn du nicht weißt / Wie soll es weitergehen / Kapitulation." Hinters letzte Wort fügt er noch ein Oh-oh-oh, der Beat dazu schlägt fröhlich, die Gitarren jubilieren wie bei den frühen Oasis. Die "Kapitulation" lärmt.

Die ganze Platte macht Krach, sie schlägt Alarm, ist Rock in Versalien, nur ohne die sonst dazugehörenden Songklischees. Sie rumpeln durch, diese Lieder, ohne Laut-leise-Wechsel, in einem Tempo, dunkel glitzern sie wie rohe Edelsteine, und doch gehorcht ihre Form einer höheren Ordnung. Das ist alles gemacht.

Das ist nicht mehr Rock als nachgespielter Minimal Techno wie noch beim letzten Tocotronic-Album, und die Texte driften nur noch selten ins Metaphysische. Höchstens stellen sie sich stur mit Worten, die sonst niemand singen würde in deutschen Popsongs: Märtyrer, Wucherung, Festung. Die Worte verheißen: Wenn es tiefer nicht geht, verzweifelter, streckt man die Waffen, macht sich unflexibel, unproduktiv, nutzlos, bleibt einfach liegen, scheißt auf wirklich alles, verlässt sich nur noch auf die pure Wucht der Negation. Und ist frei. "Sag alles ab", "Verschwör Dich gegen Dich", so heißen die neuen Lieder. Sie beschwören ein Fanal, dessen sicheres Scheitern bereits mitgedacht ist. "Das ist schon dick aufgetragen", sagt Dirk von Lowtzow, "aber das soll es ja auch sein."

Kampf gegen die herrschende Emo-Kultur

Es ist Notwehr. Und vielleicht beginnt da der eigentliche Konflikt, den Tocotronic wie Blumfeld und ihre Texter Dirk von Lowtzow und Jochen Distelmeyer über all die Jahre stellvertretend aushalten mussten. Ihre Texte wurden als Gebrauchsanweisungen, Lebensratgeber, als definitive Wirklichkeitsbeschreibungen gehört und gelesen, jede Platte ein Update für die ewigen Lebens- und Geschmacksfragen ihrer Zuhörer und Interpreten: Bin ich noch okay, stehe ich auf der richtigen Seite, wie geht's Dirk und Jochen, geht's denen auch so wie mir?

"Dieses Verhältnis zur Kunst nenne ich neurotisch", sagt Dirk von Lowtzow. Und doch ist es der eingeführte Modus der Popmusik. Das Publikum will sich identifizieren, es will was auch immer hineinprojizieren in Liedtexte, Musik, Bands. Und es wird in deutscher Sprache ja prima bedient seit ein paar Jahren, nicht bloß von den Naidoos und all den anderen bestverkauften Nationalsinnstiftern.

Auch die Bands, die von Tocotronic und von Blumfeld zumindest musikalisch gelernt haben, meinen, wenn sie "Ich" sagen, wirklich immer nur sich selbst, das private bisschen Ego, das nichts über sich selbst hinaus mitzuteilen hat. Tomte, Kettcar, Madsen, sogar Wir sind Helden und immer weiter, Juli, Silbermond, alle, alle singen davon. Aber Dirk von Lowtzow besteht darauf, dass sein Text-Ich eben nicht "Ich, Dirk von Lowtzow" bedeutet, sondern immer schon Konstrukt ist. Er will ein Textautomat sein, und er hasst das Wort "Authentizität" offenkundig so sehr, dass es ihm nur stockend über die Lippen kommt an diesem Nachmittag im Café. Er speit es am Ende fast aus, in Brocken.

Tocotronic befinden sich weiter im Kampf. Für die Kunst in der Kunstform Popmusik, für das "Zersplitterte, Ambivalente, notgedrungen Schwafelige", gegen alles, was bloß von Herzen kommen will, "gegen die herrschende Emo-Kultur, die man bekämpfen muss, weil sie künstlerisch das Reaktionäre schlechthin darstellt." Es ist ein aussichtsloser Kampf, Tocotronic haben ihn vielleicht immer nur für und mit sich selbst geführt. Jetzt aber führen sie ihn wirklich sehr allein. Sie können nicht anders. Sie machen weiter.

© SZ vom 30.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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