Der Cyberspace-Boom:Bits und Blut - das geht nicht gut

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Einsteckbuchsen am Körper: In den neunziger Jahren träumte man von Mensch-Maschine- Mischlingen. Heute mangelt es dem Cyberspace an Utopien.

Bernd Graff

Die Computerfirma Apple hat Anfang November ein Patent angemeldet für ein "automatically adjusting media display in a personal display system". Gemeint ist eine Art virtuelle Realität für unterwegs.

Traum aller schlaflosen Cyberspace-Jünger: Arnold Schwarzenegger als Cyborg "Terminator" in dritten Teil der "Terminator"-Reihe. (Foto: Foto: dpa)

Das Gerät, das in der Skizze des Patentantrags an einen Zwitter aus Taucher- und Skibrille erinnert, wird annonciert als ein Set von Kleinstdisplays, das digitale Bilder dicht vor die Augen projiziert. Zudem verfügt es über eine Sensorik, die bewirkt, dass diese Projektionen von den Kopfbewegungen des Headset-Trägers abhängig sind. Die eingespeisten Bilder folgen also jeder Schädel-Drehung mit einem "Effekt, als würde man seine Augen über eine Theaterbühne wandern lassen", und zwar in Abhängigkeit vom Aufenthaltsort des Geräteträgers. Man simuliert so zum Beispiel die Sicht von einem ganz bestimmten Sitzplatz in einem Theater.

Tatsächlich kann man dieses "automatically adjusting media display in a personal display system" kaum adäquat übersetzen. Aber man kann es sich inzwischen über alle Sprachdifferenzen hinweg vorstellen. Ganz unaufgeregt vorstellen, wohlgemerkt. Und das macht jetzt einen Unterschied.

Neue Erfahrungsräume

Denn als vor etwa 15 Jahren die ersten "Wearables", die "anziehbaren" Computer und Datenhandschuhe, vorgestellt wurden, galten sie nicht als bloß technologische Miniaturen mit irgendeiner intelligenten Funktionalität oder als weitere Bewegtbild-Bespaßungsgeräte. Sie galten als - im Wortsinn - Schlüssel zur Eröffnung neuer Erfahrungsräume.

Es waren die Medien für die letzten Utopien des 20. Jahrhunderts. Und diese wurden unmittelbar am menschlichen Körper erfahrbar. Über Wahrnehmungsgrenzen und räumliche Beschränkungen hinweg sollten mittels Digitaltechnik Erlebnisse und Begegnungen simuliert werden können, die zu erfahren man noch eine Generation zuvor entweder verdammt gute oder richtig üble Drogen hätte einwerfen müssen.

Anders als bei den psychedelischen Trips der Altvorderen offerierte diese neue virtuelle Realität, in die man mit digitaler Hilfe eintrat, den Charme unmittelbaren Erlebens auch in nüchternem Zustand: die Immersion, das Eintauchen in eine konsistente künstliche Welt und das Interagieren mit ihren Bewohnern. Die Möglichkeit zu solchem kleinen Grenzverkehr zwischen Vision und Wirklichkeit wurde vor anderthalb Jahrzehnten sofort theoretisiert und schwer mit Bedeutung aufgeladen - auch mit Sex. Man denke an die heute komisch anmutenden Prophezeiungen zum Geschlechtsverkehr per verdrahtetem Ganzkörperanzug auf dem Datenhighway.

Um ein Beispiel für die Ausschüttung solcher Deutungs-Endorphine zu geben, sei die Analyse der "Techno-Kultur" zitiert, die das Magazin Focus im April 1993 versuchte: "Sie nennen es Cyberpunk - es ist eine Art von Weltsicht. Cyberpunk könnte zur vorherrschenden Gegenkultur des Computerzeitalters werden. Besessen von Technologie, insbesondere von einer Technologie knapp außerhalb ihrer Reichweite (wie Gehirnimplantaten), sind die Cyberpunks zukunftsorientiert ohnegleichen. Mit einem Fuß stehen sie schon im 21. Jahrhundert. Letzten Endes werden wir alle Cyberpunks sein." Rudy Rucker, ein Mathematiker von der San José State University, hielt Cyberpunk damals für nichts Geringeres als "die Fusion von Menschen und Maschinen".

Überkörper

Die Utopie des Cyberpunk hatte den Boden des rein Technologischen verlassen und war gewissermaßen in den menschlichen Körper gefahren. Er wurde nun gedacht als der Gestalt gewordene kybernetische Organismus aus "biotischem und synthetischen Material", wie Donna Haraway es 1991 formulierte. Ja, es schien, als könne man den Körper, dessen Sinne und Kräfte, mit Hilfe von Hightech-Prothesen ins Irreale, ins Hypertrophe steigern.

Kybernetische Organismen, Cyborgs, um den Ausdruck von Haraway zu zitieren, waren die Überkörper der Stunde: Chimären aus Bits und Blut, Bytes und Fleisch. Und folglich rein hypothetische Konstrukte - euphorisch gedacht als Virtualisierungen des Menschen durch Kommunikationstechnologie und bildgebende Verfahren.

Diese Körperutopien erwiesen sich als ungemein stimulierend. Es ging nicht mehr um Marsflug und Botschaften an grüne Männchen. Es ging um Kraft und Kommunikation, um Roboterpotenzen und das Internet als Welthirn, um Aufhebung von Zeit und Raum durch instante ubiquitäre Kommunikation und allfließende Information.

Brian Hughes, der damalige Präsident der Renaissance Group, einer Firma, die "in virtueller Realität machte", gab 1991 die Losung aus: "Die Realität ist nicht mehr genug." Und Timothy Leary, der rauschbeschleunigte Weltenbummler, fragte damals mit bewusstseinserweiterter Klarheit in eine Abendveranstaltung zu neuen Realitäten hinein: "Ist denn nicht auch dieser Raum eine Gruppenhalluzination?"

Lesen Sie auf Seite zwei, wie in den Hochzeiten des Cyberspace selbst Gerhirntransplantationen möglich schienen.

Bereits 1984 hatte "Neuromancer", ein Roman von William Gibson, den Begriff "Cyberspace" etabliert. Darin gab es Einsteckbuchsen am Kopf, mit deren Hilfe man den Körper an den allgemeinen Datentransfer anschließen konnte, als ob es sich um eine externe Festplatte handle. Andererseits dienten Cyberbrillen als Schnittstellen, die Bilder einer künstlichen Matrix ins Hirn speisten und so etwas möglich machten, was der Cybergnostiker John Perry Barlow 1996 das "Umsiedeln der Menschheit in den Cyberspace" nannte.

Barlow tat dies in einer "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace", den er kurzerhand zur "neuen Heimat des Geistes" erklärte. Er deklarierte: "Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr. Denn: Unsere persönlichen Identitäten haben keine Körper, so dass wir im Gegensatz zu Euch nicht durch physische Gewalt reglementiert werden können."

Schon von Gibson war der Cyberspace definiert worden als eine "Konsens-Halluzination, tagtäglich erlebt von Milliarden zugriffsberechtigter Nutzer in allen Ländern". In Donna Haraways "Cyborg Manifesto" aus dem Jahr 1991 heißt es, dass der Hybrid aus Mensch und Maschine, eine "gelebte soziale und körperliche Realität" repräsentiere, "in der die Menschen keine Furcht vor ihrer Seelenverwandtschaft mit Tieren und Maschinen kennen, keine Angst haben vor permanentem Identitätsstückwerk und jederzeit widersprüchlichen Standpunkten".

Mensch-Maschine-Symbiosen

Nicht einmal mehr der Himmel war also das Limit. Selbst Gehirnimplantate schienen in Reichweite. Und jede "prometheische Scham", das Rotwerden des Homo Faber vor der Größe seiner Erfindungen, schien fehl am Platze. Im Gegenteil: Eine Kasseler Tagung zu "Mythen des Politischen" kam 1993 zu dem Ergebnis, dass der Mensch in der Virtual Reality endlich seinen Wunsch verwirklichen könne, aus der begrenzenden Körperhülle herauszutreten. Es verbleibe eine Intelligenz, die über die frei verfügbaren Körper herrsche: "Platons Traum vom freischwebenden Geist in der Unendlichkeit des Raums", wie die taz damals festhielt.

Einen paradigmatischen Gegenentwurf dazu lieferte die Film-Trilogie "Matrix" der Wachowski-Brüder. Auch sie dachten eine Mensch-Maschine-Symbiose, diesmal aber als Dystopie von ihrer Nachtseite: Eine arglistige Maschinen-Intelligenz knechtet die Menschheit mit Realitätssurrogaten, die sie unmittelbar in die angeschlossenen Hirne einspeist.

Von Frederic Jameson, Professor an der Duke University, stammt ein schönes Aperçu: "Die Frage nach Utopien ist zum Prüfstein für unsere Fähigkeit geworden, Wandel denken zu können."

Die frühe Digitalmoderne konnte Wandel offenbar noch denken, wenngleich ihre Utopie nicht mehr den verheißungsvollen Nicht-Ort in irgendeiner Wunschtopographie beschrieb, auch nicht mehr die Verklärung herrlicher Idealzustände der menschlichen Gesellschaft. Die letzten uns bekannten Utopien waren Phantasmen des Posthumanismus, sie fabulierten von inkorporierten Maschinenfähigkeiten und Körperinschriften des Digitalen. Paradox daran war selbstverständlich, dass Utopia, der Nicht-Ort, ausgerechnet am konkretesten Ort der Welt zu finden sein sollte, dem menschlichen Körper, und damit an jenem materiellen Zentrum von Erfahrung und Geschichte, das von sich "ich" sagt.

Triumph des Menschlichen

Tempi passati: Die neuesten Entwicklungen und Errungenschaften der Technik belegen, dass wir zwar angekommen sind und längst Fuß gefasst haben im Cyberspace, dass wir etwa mit Hilfe von Spiele-Konsolen Tennis mit virtuellen Partnern oder Fußball mit den Stellvertreter-Avataren unserer Freunde spielen können.

Aber das aufregende Flirren der Utopie, die Verheißung, die mit solcher Grenzüberschreitung einmal verbunden war, ist nirgends mehr zu spüren. Im Gegenteil: Ihr jüngster Ritter in der Trivialkultur von heute ist der kineastische "Iron-Man" aus dem letzten Sommer, der sich von Robotern eine Rüstung als Kampfmaschine unmittelbar in und auf den Leib schneidern lässt - von Robert Downey Jr. gespielt als Witz, der fliegen lernt.

Das "Second Life" interessiert allenfalls noch als Geschäftsmodell. Und den Triumph des Menschlichen erlebt man heute ausgerechnet in "Wall-E", einem Müllroboter im gleichnamigen Pixar-Film, der als verliebte Maschine darlegt, dass selbst die größten Gefühle gar keinen Menschen mehr benötigen.

Pragmatisch angewandte Schrumpfformen der ehemals bildmächtigen Körperbild-Utopien finden sich in dreidimensionalen Virtualisierungen, etwa von Nase und Mittelohr, die sogenannte Computervisualisten auf Grundlage computertomographischer Untersuchungen zur Vorbereitung von Operationen erstellen. Oder in den Stilisierungen der Mode- und Kosmetikindustrie, die nur noch verheißen, dass die Utopie vom besseren Körper in der Optimierung von Sattelnase und Körbchengröße und der Korrektur von Schlupflid und Bierbauch erlebbar wird.

Und wenn dann Apple demnächst ein Headset für virtuelle Realitäten anbieten sollte, dann wird es vermutlich sehr gut aussehen und einfach zu bedienen sein. Mehr aber bitte nicht. Von der Einlösung des alten Versprechens, einer Fusion von Mensch und Maschine, wird man abzusehen haben. Es reicht völlig, dass man damit Theater sehen kann, das gar nicht da ist.

© SZ vom 3.12.2008/jb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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