Der Chodorkowskij-Prozess:Unter hinter tausend Stäben keine Welt

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Am Mittwoch beginnt in Moskau die Verlesung des Urteils gegen den ehemaligen Ölmagnaten Michail Chodorkowskij. Sie wird mehrere Tage dauern. Zweifel an der Rechtmäßigkeit des gesamten Verfahrens wurden bereits laut. Ein Gespräch mit der Soziologin Olga Kryschtanowskaja über Russlands willfährige Justiz. Das Interview von Sonja Zekri

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Was für eine Fallhöhe: Vor zwei Jahren war Michail Chodorkowskij der reichste Mann Russlands mit einem Vermögen von 15 Milliarden Dollar. Inzwischen ist sein Konzern Yukos zerschlagen, sein Reichtum dahin und ihm selbst drohen zehn Jahre Lager wegen Betrug, Steuerhinterziehung, Bildung einer kriminellen Vereinigung. Am Mittwoch beginnt die Urteilsverkündung, die nach russischem Recht mehrere Tage dauern kann. Olga Kryschtanowskaja, Direktorin des Instituts für angewandte Politik und Leiterin der Abteilung für Eliteforschung am Soziologischen Institut der Akademie der Wissenschaften in Moskau, arbeitet an einer Biografie des Ex-Oligarchen. Das Verfahren, so ihre Analyse, spottet rechtsstaatlichen Normen, es wurde hinter den Kulissen der Macht ausgeheckt. Gerade dies aber, so ihr Fazit, könnte Chodorkowskijs Glück sein.

Chodorkowskij sitzt in einem Käfig, die Verteidigung und die Zuschauer sitzen auf Holzbänken. Nur für die Staatsanwalt gibt es weiche Sessel -- nach dem Motto: weich für den Staatsanwalt, hart für die Verteidigung. (Foto: Foto: dpa)

SZ: Sie haben den Prozess über Monate verfolgt . . .

Olga Kryschtanowskaja: . . . und dabei gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen wie früher in der Prawda. Es hieß beispielsweise, die Verhandlung sei öffentlich. Aber eine Bekannte der Rand Corporation versuchte viermal vergeblich hineinzukommen.

SZ: Sie wurde von Gerichtsaufsehern abgewiesen, die dem Sicherheitsdienst angehören.

Kryschtanowskaja: Der Saal im Meschanski-Gericht hat nur 27 Plätze für die Zuschauer. Es ist ein schrecklicher Ort: Man riecht die Toiletten nebenan, Chodorkowskij sitzt in einem Käfig, die Verteidigung und die Zuschauer sitzen auf Holzbänken. Nur für die Staatsanwalt gibt es weiche Sessel -- nach dem Motto: weich für den Staatsanwalt, hart für die Verteidigung.

SZ: Das betrifft nicht nur das Mobiliar?

Kryschtanowskaja: Nein. Fast alle Anträge der Verteidigung wurden abgelehnt, jene der Staatsanwaltschaft aber angenommen. Die Richterinnen -- 90 Prozent aller russischen Richter sind Frauen, was aber nur das geringe Ansehen des Amtes zeigt -- haben offenbar entsprechende Anweisungen. Sie sagen beispielsweise: Die Verteidiger haben das Dokument in zwei Kopien vorgelegt, es müssen aber drei sein. Oder: Sie haben eine Kopie des Beweisstückes vorgelegt, wir brauchen das Original. Daraufhin entgegnete der Verteidiger: Aber das Original wurde doch bei einer Durchsuchung der Kanzlei konfisziert, es liegt den Prozessakten bei! Es nützte nichts. Das Ganze ist grotesk.

SZ: Wie kann da die Verteidigung arbeiten?

Kryschtanowskaja: Die Verteidiger können Chodorkowskij die Beweise zeigen, aber er darf sie nicht in die Hand nehmen. Vor seinem Käfig stehen Wachen mit Maschinengewehren. Die Telefonate der Verteidigung wurden abgehört, ihre Computer-Daten gelöscht, Papiere entwendet. Man könne sie jederzeit ebenfalls anklagen, sagen die Verteidiger. Zwei Anwälte haben ihre Familien in Sicherheit gebracht.

SZ: Nimmt Präsident Putin Einfluss auf das Verfahren?

Kryschtanowskaja: Natürlich ruft Putin nicht einfach im Gericht an und sagt: Sie müssen so und so entscheiden. Es gibt eine lange, gewundene Befehlskette. Jemand im Kreml betreut den Fall, vielleicht Vize-Stabschef Igor Setschin, der enge Beziehungen zu Generalstaatsanwalt Ustinow hat, ihre Kinder sind ja verheiratet. Es ist eine stalinistische Art der Rechtssprechung: Nicht das Gericht spricht das Urteil, sondern die Staatsanwaltschaft -- oder wer auch immer hinter ihr steht.

SZ: Der Staatsanwalt Dmitrij Schochin . . .

Kryschtanowskaja: . . . ist sehr ehrgeizig. Zu Prozessbeginn war er Major, inzwischen wurde er zweimal befördert, heute ist er Oberst. Er bekam sogar einen Orden. Eine beispiellose Karriere.

SZ: In ihrem Buch "Anatomie der russischen Elite" beschreiben Sie, wie sehr der Staat inzwischen von Geheimdiensten und Militär unterwandert ist. Schlägt sich dies im Prozess nieder?

Kryschtanowskaja: Ja. Die Steuerbehörden etwa sind längst der verlängerte Arm der Macht. Bei uns gibt es die Steuerinspektion und die Steuerpolizei, letztere wurde 1994 unter Jelzin geschaffen. Sie wird von einem KGB-General geleitet, 95 Prozent der Mitarbeiter stammen aus dem KGB.

SZ: Für den Prozess wurden Steuergesetze rückwirkend geändert . . .

Kryschtanowskaja: Einer der Anwälte hat es so erklärt: Yukos hatte seine Steuern mit Wechseln beglichen, was nach dem alten Steuerrecht erlaubt war. Im Januar 2004 erließ Finanzminister Alexej Kudrin aber eine Ergänzung, dass dies unzulässig ist. Diese Regel wendet der Staatsanwalt nun rückwirkend an. Unsere Gesetze sind so schlecht formuliert, dass man sie kaum begreift.

SZ: Das Verfahren wird oft mit den stalinistischen Schauprozessen verglichen.

Kryschtanowskaja: Es funktioniert ähnlich. Man nimmt die Nummer 1, um alle anderen einzuschüchtern. Chodorkowskij war der reichste, mächtigste der Oligarchen. Auch der demonstrative Charakter, die Härte sind vergleichbar: Man musste ihn nicht in einem Käfig ausstellen. Aber im Unterschied zu früher hat Chodorkowskij brillante Anwälte. Sie haben es geschafft, dass sich die öffentliche Meinung zumindest in Moskau dreht. Bei Chodorkowskijs letztem Auftritt standen selbst der Richterin Tränen in den Augen. Diese Transparenz, diese Öffentlichkeit gab es unter Stalin nicht.

SZ: Der Prozess gilt auch darum als politisch motiviert, weil andere Oligarchen ebenso viel auf dem Kerbholz haben.

Kryschtankowskaja: Es gibt verschiedene Gründe für die Verhaftung. Zum einen wirtschaftliche: Chodorkowskij träumte davon, Yukos von einem ÖlKonzern in einen Öl- und Gas-Konzern umzuwandeln. Dabei kollidierte er mit Gasprom . . .

SZ: . . . dem halbstaatlichen Erdgasmonopolisten.

Kryschtankowskaja: Zum anderen stritt er mit der staatlichen Ölgesellschaft Rosneft um Förderquellen. Und es gab einen Zwist mit dem staatlichen Öltransport-Monopolisten Transneft, weil Chodorkowskij ein unabhängiges Öltransport-Unternehmen aufbauen wollte. Da entschieden diese drei Konzerne: Wenn wir ihn jetzt nicht bremsen, ist es zu spät. Auch Chodorkowskij hält ökonomische Gründe für ausschlaggebend. Die Logik ist simpel: Diejenigen, die Yuganskneftegas bekommen haben . . .

SZ: . . . das Kronjuwel des Yukos-Konzerns, das in einer dubiosen Auktion an Rosneft verscherbelt wurde zur Begleichung der Yukos-Steuerschulden, auf das aber auch Gasprom ein Auge geworfen hatte . . .

Kryschtankowskaja: . . . diese Menschen hatten ein Interesse daran, Chodorkowskij aus dem Weg zu räumen: Rosneft-Boss Sergej Bogdantschikow, Gasprom-Vorstandschef Alexej Miller und natürlich die Leute hinter ihnen. Unter den Politikern wohl Vize-Stabschef Setschin, der ja zugleich Rosneft-Aufsichtsratchef ist, und Dmitrij Medwedew, Kreml-Stabschef und Gasprom-Aufsichtsratschef. Es hängt alles zusammen. Aber es gibt auch politische Gründe: Chodorkowskij hat sich gesellschaftlich engagiert . . .

SZ: . . . er hat die Open-Russia-Stiftung gegründet, Schulen finanziert, Computerkurse für Waisenkinder . . .

Kryschtanowskaja: . . . manche Beamte fürchteten, er wolle einen Parallelstaat errichten. Er hat offen liberale Parteien unterstützt und damit gegen den "Schaschlik-Pakt" zwischen Wirtschaft und Politik verstoßen: Kein Oligarch darf sich in die Politik einmischen. Und für Putin selbst war wohl entscheidend, dass Chodorkowskij ihn persönlich gereizt hat. Putin mag anonyme, gehorsame Apparatschiki. Und Chodorkowskij trat zur Audienz ohne Krawatte an!

SZ: Dennoch vermeidet Chodorkowskij bis heute jeden Angriff auf Putin.

Kryschtanowskaja: Ja, er glaubt, Putin sei von Beamten über seine politischen Ambitionen getäuscht worden. Ich sehe das anders. Alles geschieht mit Zustimmung Putins. Aber natürlich tut Chodorkowskij alles, um sein Leben zu retten. Ein Angriff auf den Präsidenten wäre der sichere Tod.

SZ: Mit welchem Urteil rechnen Sie? Im Januar hieß es im Kreml noch, er bekomme acht, neun Jahre.

Kryschtanowskaja: Die jüngste Version lautet, Chodorkowskij könnte vor den Präsidentschaftswahlen 2008 entlassen werden. Verstehen Sie, der Kreml hat riesige Angst vor einer orangefarbenen Revolution, und die Menschen wollen keine Marionette wählen. Darum wird man als Kandidaten Ex-Regierungschef Jewgenij Primakow präsentieren, weil er alt ist -- ähnlich wie beim Papst --, und Primakow braucht einen soliden Gegner. Chodorkowskij ist Jude, er wird nie gewählt werden, aber er könnte die Wahl weniger inszeniert erscheinen lassen. Dafür spricht, dass die Urteilsverkündung vor den Feiern zum 60. Jahrestag des Kriegsendes am 9. Mai angesetzt ist. Wie könnte Putin sonst den geladenen Staatschefs in die Augen sehen?

© SZ vom 26.4.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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