Debatte: Patientenverfügung:Der letzte Kunstfehler

Lesezeit: 5 min

Zum Lebensende wünscht man sich eine adäquate Versorgung - doch die scheitert oft an der dramatischen Inkompetenz der Ärzte.

Gian Domenico Borasio

Seit Monaten berät der Bundestag über ein Gesetz, das die Regeln für die Patientenverfügung festlegen soll. Obwohl die Entscheidung im Frühjahr fallen soll, ist noch keine Einigung abzusehen - kein Wunder bei der ethischen Brisanz der Verfügung über das eigene Sterben. Wir setzen unsere Debatte zum Thema mit einem Beitrag von Gian Domenico Borasio fort, der Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München ist.

Es kam so, wie es der alte Mann befürchtet hatte: Er wurde durch einen Schlaganfall gelähmt und war nicht mehr ansprechbar. Eine Aussicht auf Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben bestand nicht. Für diesen Fall hatte er eine Patientenverfügung verfasst und festgelegt, dass er in einer solchen Situation keine lebensverlängernden Maßnahmen und keine künstliche Ernährung wollte.

Angst

Die vom Gericht zur Betreuerin bestellte Tochter versuchte, den Willen des Vaters bei dem behandelnden Arzt durchzusetzen - vergebens; man dürfe den Patienten nicht "verhungern" lassen, beschied sie der Arzt. Sie könne aber ihren Vater natürlich jederzeit mit nach Hause nehmen. Dies tat die Tochter, nicht ohne vorher den Arzt wegen Körperverletzung angezeigt zu haben. Der Vater starb friedlich nach wenigen Tagen, der Arzt revanchierte sich mit einer Anzeige wegen Totschlags. Tochter und Arzt sind bis heute durch die Ereignisse gezeichnet.

Der Überbegriff für die gesamte Diskussion über Patientenverfügungen ist die Angst. Viele Menschen haben Angst, am Ende ihres Lebens im Zustand der Äußerungsunfähigkeit Opfer einer oft als bedrohlich empfundenen, reflexionsfrei auf die maximale Verlängerung der biologischen Existenz ausgerichteten High-tech-Medizin zu werden.

Juristische Fehlentscheidungen

Unscharfe bildliche Metaphern wie "an Schläuchen hängen" bauschen diese Ängste weiter auf. Zwar hat in Krankenhäusern und Intensivstationen längst ein Umdenken begonnen, und in vielen Kliniken stehen Ethikkomitees für eine Beratung bei schwierigen Entscheidungen zur Verfügung, aber es werden leider immer wieder Vorkommnisse bekannt, die geeignet sind, diesen Ängsten neue Nahrung zu geben.

Auf der anderen Seite steht die Angst der Ärzte vor rechtlichen Konsequenzen, wenn sie nicht alles Mögliche tun, um den Patienten am Leben zu erhalten. Auch diese Angst ist nicht ganz unbegründet: Obwohl die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Zulässigkeit der sogenannten passiven Sterbehilfe, das heißt des Nicht-Einleitens oder Nicht-Fortführens lebenserhaltender Maßnahmen, und den Vorrang der Selbstbestimmung des Patienten mehrfach betont hat, gibt es immer wieder juristische Fehlentscheidungen in unteren Instanzen, welche die Ärzte in ihrer Defensivhaltung bestärken.

Hier ist eine gesetzliche Klärung dringend geboten, denn die grassierende Rechtsunsicherheit schürt die Ängste von Ärzten und Patienten gleichermaßen und behindert den für gute Entscheidungen am Lebensende unentbehrlichen Dialog aller Beteiligten.

Verlust der Würde

Eingebettet sind diese Befürchtungen in den größeren Kontext der weit verbreiteten Angst vor einem Verlust der Würde und Unabhängigkeit bei fortschreitendem Alter. Die Suizidraten in Deutschland sind seit 20 Jahren kontinuierlich rückläufig - aber die Alterssuizide wachsen gegen den Trend stetig weiter. Das sollte zu denken geben.

Auch die Betreuung von schwerstkranken und sterbenden Menschen wirft viele Fragen auf. Im Getöse der Patientenverfügungs-Debatte, in der es vor juristischen Spitzfindigkeiten und Euthanasie-Warnungen nur so strotzt, geraten die eigentlichen Probleme am Lebensende leicht in den Hintergrund.

Dabei ist die Situation gar nicht so kompliziert: Die Menschen wünschen sich eine adäquate Versorgung in ihrer letzten Lebensphase, die die medizinischen, pflegerischen, psychosozialen und spirituellen Aspekte umfasst - genau so, wie es die Definition der Palliativmedizin durch die Weltgesundheitsorganisation vorsieht. Damit ist es allerdings in Deutschland derzeit nicht so gut bestellt, wie die folgenden zwei Beispiele verdeutlichen.

Die Angst vor qualvollen Symptomen in der Sterbephase ist eine der häufigsten Ursachen für die Befürwortung der Tötung auf Verlangen in der Bevölkerung. Zwei der am meisten verbreiteten Ängste, vor allem bei Ärzten und Pflegenden, sind die Angst vor Verdursten und Ersticken in der Terminalphase. Diese Ängste führen dazu, dass Sterbende in Deutschland reflexartig Flüssigkeit und Sauerstoff verabreicht bekommen, um Verdursten und Ersticken zu verhindern. Leider haben diese Maßnahmen zwei große Nachteile.

Erstens bringen sie nichts. Das Durstgefühl in der Sterbephase korreliert nicht mit der Menge der zugeführten Flüssigkeit, sondern mit dem Grad der Trockenheit der Mundschleimhäute. Die Verflachung der Atmung ist ein physiologisches Zeichen der Sterbephase und kein Zeichen der Atemnot, sodass die Sauerstoffgabe keinem vernünftigen Zweck dient.

Die Symptome

Außerdem schaden sie den Patienten. Die Gabe von Sauerstoff über eine Nasenbrille trocknet die Mundschleimhäute aus, sodass dadurch tatsächlich ein qualvolles Durstgefühl entsteht, unabhängig von der Menge der zugeführten Flüssigkeit. Diese wiederum muss über die Niere ausgeschieden werden. Die Niere ist aber das Organ, das im Verlauf der Sterbephase mit als Erstes seine Funktion einstellt. Dadurch kann die zugeführte Flüssigkeit nicht mehr ausgeschieden werden und wird in das Gewebe eingelagert, vor allem in die Lunge, was zu Atemnot führt.

Damit bringen die wohlgemeinten Maßnahmen zur Vermeidung von Verdursten und Ersticken genau die Symptome erst hervor, die sie verhindern sollten.

Ein zweites Beispiel ist die routinemäßige Versorgung mit einer durch die Bauchdecke in den Magen eingeführten Sonde zur künstlichen Ernährung von Patienten mit fortgeschrittener Demenz, die zu einer oralen Nahrungsaufnahme nicht mehr fähig sind.

Routine

Alle vorhandenen Studien haben keine Hinweise dafür ergeben, dass die mit dieser Maßnahme angestrebten Therapieziele erreicht werden können. Es zeigen sich keine Vorteile hinsichtlich Lebensverlängerung, Verbesserung des Ernährungsstatus, der Lebensqualität oder der Wundheilung. Die Sonde kann außerdem schwere Nebenwirkungen haben, wie lokale und systemische Entzündungen, Verlust der Freude am Essen und Verringerung der pflegerischen Zuwendung.

Daher wurde schon vor Jahren von Experten ausgesprochen: "Dieses Missverhältnis zwischen Vorteilen und Nachteilen begründet die Empfehlung, dass künstliche Ernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz nicht angewendet werden sollte." Es fehlt für diese Maßnahme in dieser Patientengruppe schlicht die medizinische Indikation - trotzdem wird sie mehr als 100 000 Mal jährlich in Deutschland anpraktiziert.

In bester Absicht

Kurzum, es wird derzeit in Krankenhäusern und Pflegeheimen vieles in bester Absicht getan, was die Menschen ungewollt, aber aktiv am friedlichen Sterben hindert.

Dies hat die paradoxe Folge, dass Patientenverfügungen heute vorwiegend dazu dienen, sich vor ärztlichen Kunstfehlern am Lebensende zu schützen - und das auch noch berechtigterweise. Die am weitesten verbreitete Patientenverfügung stammt von den beiden christlichen Kirchen: "An mir sollen keine lebensverlängernden Maßnahmen vorgenommen werden, wenn nach bestem ärztlichen Wissen und Gewissen festgestellt wird, dass jede lebenserhaltende Maßnahme ohne Aussicht auf Besserung ist und mein Sterben nur verlängern würde."

Sterbeverlängerung ist aber an sich kein ärztliches Therapieziel - insofern müssten solche Maßnahmen ärztlicherseits ohnehin unterbleiben, und zwar unabhängig vom Patientenwillen, weil sie nicht indiziert sind.

Dass dies oft nicht geschieht, ist der dramatischen Inkompetenz vieler Ärzte in puncto Palliativmedizin geschuldet, die in vielen Studien dokumentiert ist. Dennoch weigert sich die Politik standhaft, das einzig Richtige zu tun, was die Bevölkerung nachhaltig vor ärztlichen Fehlern am Lebensende schützen könnte, nämlich die Palliativmedizin als Pflichtfach in das Medizinstudium einzuführen.

Bislang ist dies - auf freiwilliger Basis - nur in fünf Universitäten geschehen, erstmals 2004 an der Universität München. So bekommen 90 Prozent der deutschen Medizinstudenten nach wie vor ihre ärztliche Approbation, ohne die geringste Ahnung von Palliativmedizin und Sterbebegleitung zu haben. Damit sind diejenigen Ängste weiterhin berechtigt, welche die Menschen primär zur Abfassung von Patientenverfügungen motivieren.

Diese Ängste wären in einem gut funktionierenden Gesundheitssystem, in welchem alle Ärzte adäquat in Palliativmedizin ausgebildet sind, überflüssig.

© SZ vom 3.3.2009/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: