Dauerausstellung unter dem Holocaust-Mahnmal:Das subversive Element

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Gesichter statt Stelen: Der unterirdische "Ort der Information" könnte zum wunden Punkt des ganzen Mahnmals werden.

GUSTAV SEIBT

Peter Eisenmans begehbare Skulptur trägt keinen expliziten Hinweis auf seinen semantischen Zweck. Kein traditionelles Symbol -- wie etwa ein Davidsstern -- verdeutlicht, dass es sich um ein Mahnmal für die ermordeten Juden Europas handelt. Es handelt sich, wie Michael Naumann bemerkte, um ein "offenes Kunstwerk", dessen absichtsvolle schöne Rätselhaftigkeit im Kontrast zu dem denkbar eindeutigen Faktum millionenfachen Mords steht: "Sechs Millionen ermordete Juden sind kein Rätsel" (Naumann). Historisch lesbar wird das Mahnmal durch den in die Tiefe gebauten "Ort der Information", ein Ausstellungsbereich von gut 1600 Quadratmetern -- also eine durchaus moderate Dimension --, der den Besuchern grundlegende Kenntnisse zur Judenvernichtung vermittelt.

Der Gebrauch des Mahnmals durch die Besuchergruppen wird erweisen, wie sich die Gewichte zwischen dem Kunstwerk oben und der Unterrichtung unten verteilen werden. (Foto: Foto und Copyright: Regina Schmeken)

Der Gebrauch des Mahnmals durch die Besuchergruppen wird erweisen, wie sich die Gewichte zwischen dem Kunstwerk oben und der Unterrichtung unten verteilen werden. So wird die Frage, was man zuerst besucht -- das Stelenfeld mit seiner minimalistisch-repetitiven, dabei erhabenen Wirkung oder die auf konkrete Empathie zugeschnittene Ausstellung mit ihrem Focus auf Einzelschicksalen -- über die ästhetische Wirkung des Komplexes entscheiden. Dass sich diese Frage individuell verschieden beantworten lässt, dass man das Denkmal auch zweimal durchwandern kann, vor dem Museumsbesuch und danach, all das trägt zu der von Naumann betonten Offenheit des zwischen Landart, Skulptur und Denkmal changierenden Eisenmanschen Kunstwerks bei.

Schon heute ist deutlich, dass sich die ursprüngliche, auf Abstraktion und feierliche Vieldeutigkeit gerichtete Intention nicht aufrechterhalten ließ. Das Mahnmal hat einen didaktischen, also vergleichsweise diesseitigen und so auch politischen Zug angenommen. Der "Ort der Information" ist nicht nur einer detaillierten Kritik durch Experten zugänglich; er wird zudem im Lauf der Jahre neuen Erkenntnissen und neuen Bedürfnissen angepasst werden können. Mit ihm ist ein dynamisches, potentiell subversives Element in den Komplex gekommen, das ihn unmittelbar in die Debatte der rezipierenden Öffentlichkeit ziehen wird. So hat er schon jetzt auf eine kritische Diskussion reagiert, nämlich die Frage, ob es richtig war, das Mahnmal allein den Juden zu widmen. Wenigstens in den Schrifttexten ist auch von ermordeten Geisteskranken, Sinti und Roma sowie den Homosexuellen die Rede.

Formal haben die Gestalter viel dafür getan, um oben und unten, Stelenfeld und die vier großen Ausstellungsräume zu verzahnen. Die Grundformen der Stele wiederholen sich teils am Boden (in Gestalt erleuchteter Platten, auf denen die vergrößerten Faksimile der Zeugnisse Umgekommener schimmern), teils in der Rasterung der Decke, teils ragen diese Stelenumrisse als Ausstellungskästen von der Decke nach unten. Diese Anbindung erzeugt die vage Suggestion, die Kellerwelt der Ausstellung könne sich noch viel weiter ausdehnen, nämlich unter dem gesamten Stelenfeld, und damit ist gesagt, dass der realisierte Teil nur Ausschnitte aus dem Meer des Wissbaren repräsentiert.

Die Inhalte der Schau werden noch einem fachmännischen Examen durch Zeithistoriker unterworfen werden müssen. Sie konzentrieren sich auf die Opfer und setzen aufs Mitgefühl mit konkreten Menschen. Nicht Leichenberge oder die furchtbaren Haar-, Schuh- und Brillenhaufen aus Auschwitz mit ihrem entpersönlichendem Grauen prägen das Bild, sondern Porträts Einzelner und Gruppenbilder von Familien. Wir sehen denkbar unterschiedliche Menschen im Habitus der ersten Jahrhunderthälfte, Personen aller Alterstufen, Länder und Schichten. Der bärtige Rabbiner steht neben dem Jugendlichen im Sonntagsanzug, der Handwerker neben dem Stadtbürger mit Hemd und Krawatte, Familien in Restaurantgärten oder beim Feiern.

Ein erster Raum sammelt Zeugnisse der Umgebrachten, erschütternde Abschiedsworte, verzweifelte letzte Briefe und Tagebuchnotizen. Ein zweiter Raum bezeichnet Orte der Vernichtung und damit auch die Stufen ihrer technischen Umsetzung, von der Massenerschießung über die Gaswägen bis zu den Gaskammern. Transportwege und Lager kommen in den Blick. Ein dritter Raum ist einzelnen Familien gewidmet, deren Verfolgungs- und Ermordungsgeschichte bildlich und schriftlich nachgezeichnet wird, was auch eine Topographie des so vielfältigen europäischen Judentums ergibt. Ein Raum der Namen ist am kunsthaftesten geraten. Auf die schwarzen Wände wird jeweils ein Name projiziert, während eine Stimme auf deutsch und englisch die sorgfältig recherchierten Lebensläufe dieser Ermordeten verliest -- lexikalisch knappe Mitteilungen, deren Pathos in einer berührenden, nämlich durchschnittlichen Individualität liegt. Alle möglichen Berufsgruppen und Spielarten der Existenz kommen beispielhaft vor, das junge Mädchen oder der Handlungsreisende. 800 solcher Namen sind bisher gespeichert, ein ehrgeiziges Ziel ist es, die von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem bisher dokumentierten dreieinhalb Millionen Schicksale in dieser Weise vorführen zu können -- was mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde.

Seitenräume zeigen Gedenkstätten zum Judenmord aus der ganzen Welt, und damit ordnet sich das Berliner Mahnmal in eine Internationale des Erinnerns ein. Besondere Beziehungen wurden zu Yad Vashem geknüpft, das seine Datenbanken für Computer mit Namenssuchfunktion zur Verfügung gestellt hat.

Schon bald könnte sich erweisen, dass der "Ort der Information" dem Besucherandrang nicht gewachsen sein wird, denn gleichzeitig können sich nur 250 Personen darin aufhalten. Vieviele Tausende werden täglich kommen? Das ist die Frage, die sich in Kürze stellen wird. Das Museum mit seiner Veränderlichkeit und dem vielleicht schon bald dort herrschenden Gedränge könnte zum wunden Punkt des ganzen Mahnmals werden.

© SZ vom 9.5.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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