Das war die BRD (5):Die Kicker-Stecktabelle

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In der Anziehungskraft der Vereinsembleme bewahrte sich das Wappen noch etwas von jener Autorität, die es als Erkennungszeichen von Familien oder Städten längst eingebüßt hatte.

ANDREAS BERNARD

(SZ vom 10.01.2001) - Am Sonderheft der Zeitschrift Kicker, das jeden Sommer zum Bundesligastart erschien, hatte sich jahrelang der Verlauf der eigenen Biographie zu messen. Schon beim ersten Überfliegen der Vereinsstatistiken galt unser Augenmerk der Spalte mit den Geburtsdaten der Spieler, um sicher zu stellen, dass noch ausreichend Zeit blieb, die eigene Karriere voranzutreiben. Es bestand kein Grund zur Sorge: Selbst die jüngsten Spieler im Kader der Mannschaften waren noch weitaus älter als wir, höchstens Jahrgang 1965 oder 66. Wir am Ende der sechziger Jahre Geborenen lagen also im Soll, und solange kein einziger Fußballer die Schallmauer des Jahres 1970 durchbrochen hatte, war ohnehin alles in Ordnung. In Ruhe konnten wir uns den Neuerungen der anstehenden Spielzeit widmen: den Informationen über die Zugänge und Abgänge der einzelnen Clubs; den ganzseitigen Mannschaftsfotos, in der Hoffnung, auf den Trikots mancher Teams einen neuen Werbeschriftzug zu finden; und schließlich, in der Mitte der Zeitschrift, der berühmten Karton-Stecktabelle zum Heraustrennen. Dieser Augenblick markierte vielleicht den eigentlichen Startschuss zur neuen Saison: Wenn wir in mühevoller Arbeit die Embleme der 18 Bundesliga- und 20 Zweitliga-Mannschaften von der Pappe lösten und sie in jener Reihenfolge, die wir für das kommende Jahr erwarteten, zum ersten Mal in die Ritzen der Tabelle steckten (wobei wir uns den Aufwand bei den unbekannten Wappen der Zweiten Liga sparten). Die Tabelle mit den Bundeligaclubs aber wurde noch am selben Tag mit ein paar Nägeln über dem Bett befestigt.

Forever Number One; Dass den Vereinswappen eine solche Bedeutung zukam bei der Ausprägung unseres Fußballverstandes, lag vielleicht daran, dass sie schon zu einer Zeit über Vorlieben und Abneigungen entschieden, da wir noch nicht einmal zu lesen imstande waren. (Foto: N/A)

In der Anziehungskraft der Vereinsembleme bewahrte sich das Wappen noch etwas von jener Autorität, die es als Erkennungszeichen von Familien oder Städten längst eingebüßt hatte. Die vergessene Bedeutung der Heraldik überlebte nur noch im Bereich des Fußballs - was sich etwa daran zeigte, dass ich nichts über das offizielle Wappen unseres Bundeslandes wusste, die Musterung des roten FC-Bayern-Emblems jedoch bis ins letzte Detail hätte beschreiben können. Für mich waren dieses und jenes ohnehin identisch. Die Vereinswappen verschafften uns auf diese Weise eine erste Vorstellung von der Gestalt des Landes, in dem wir lebten: eine Farbenlehre der Bundesrepublik. Bremen etwa war von Beginn an mit der Farbe Grün assoziert, und als ich Jahre später zum ersten Mal tatsächlich dorthin fuhr, kamen mir die zahlreichen Parks wie Indizien vor, genauso wie in Dortmund jede Telefonzelle oder jedes Postamt das unwiderruflich Gelbe dieser Stadt bestätigte. Das Wissen über die Geographie des Landes nahm seinen Anfang über den Fußball - das erwies sich auch an jener großen Deutschland-Karte, die das Kicker-Sonderheft oder die Panini-Sammelalben jedes Jahr auf einer der ersten Seiten abbildete. Alle 18 Bundesliga-Vereine waren darin eingezeichnet, und Jahre vor der ersten Erdkundestunde lernte ich durch sie einiges über die regionalen Merkmale der Bunderepublik: über die dichte Besiedelung im Westen, mit so vielen Großstädten, dass auf der Karte fast kein Platz für alle Vereine blieb; über die Inselhaftigkeit Berlins, denn rund um das Emblem von Hertha BSC war bloßes Brachland; über die luftige Größe Bayerns, mit dem monolithischen FC Bayern München ganz im Süden.

Dass den Vereinswappen eine solche Bedeutung zukam bei der Ausprägung unseres Fußballverstandes, lag vielleicht daran, dass sie schon zu einer Zeit über Vorlieben und Abneigungen entschieden, da wir noch nicht einmal zu lesen imstande waren. Ihr Wiedererkennungswert blieb dann über die Jahre hinweg von unterschiedlicher Größe. Vermutlich täuschten wir uns, und es war alles eine Sache der Gewöhnung: Dennoch schien von den Emblemen der traditionellen Bundesliga-Vereine eine größere Überzeugungskraft auszugehen als von denen der Aufsteiger und Zweitliga-Mannschaften - als würde sich das Format der sportlichen Leistung auch im Ästhetischen widerspiegeln. Das leuchtende Rot des 1. FC Kaiserslautern mit den mächtigen Buchstaben im Kreisinnern; die schwarz-weißen Rauten des Hamburger SV auf blauem Grund; das klassische blau-weiße Schild des VFL Bochum; die Runenschrift des VFB Stuttgart: Die beständigsten Vereine dieser Zeit waren auch im Besitz der einprägsamsten und am klarsten gestalteten Embleme. Wie anders dagegen die meisten Aufsteiger oder die Clubs aus der Zweiten Liga, Mannschaften wie Blau Weiß Berlin, SV Meppen oder Union Solingen. Schon im Bereich der Graphik brachten die Vereine nicht die Voraussetzung mit, um zu einem wiedererkennbaren Markenzeichen des deutschen Fußballs zu werden; zu kleinteilig und unübersichtlich waren die Embleme, so schnell vergessen wie die Namen der Spieler nach dem raschen Wiederabstieg. Diese Wappen waren nicht mit einem Blick einzufangen, sondern setzten sich aus verschlungenen Linien und schwer leserlichen Schriftzügen zusammen. Sie mochten einen Club vielleicht bezeichnen, keineswegs aber verkörpern wie die Mönchengladbacher Raute oder das Bochumer Schild, die sosehr zum ikonographischen Bestand der Liga gehörten, dass ein Abstieg der Mannschaften allein aus diesem Grund unvorstellbar schien. (Als es dann später doch geschah und etwa der rote 1.FC Kaiserslautern-Kreis unter den Wappen der Zweiten Liga auftauchte, hatte das beinahe etwas Unglaubwürdiges: ein zu gewichtiges Zeichen unter dem restlichen Gemisch, merkwürdig deplaziert wie ein Fünfmarkstück im Gitarrenkoffer eines Straßenmusikanten.)

Die Kicker-Stecktabelle hing die ganze Woche über wie ein Poster in meinem Kinderzimmer, doch jeden Samstag vor der Sportschau wurde sie heruntergenommen, um gleich nach den Spielberichten aktualisiert zu werden. An diesen Abenden, wenn ich mit meinem Vater vor dem Fernseher saß, lernte ich die Sprache des Bundesligafußballs kennen. Dass wir es mit einer Sprache zu tun hatten, war wörtlich zu verstehen, denn die Vermittlung der Spiele hing untrennbar zusammen mit den besonderen Redeweisen der Sportreporter. Sich im Fußball auskennen hieß: den Code der Berichterstattung in der Sportschau zu durchschauen, und so wurde ich an diesen Samstagabenden von meinem Vater in die Kunst der Textinterpretation eingeweiht. Alles hatte damit zu tun, dass die Sportreporter während der Aufzeichnung das Spielergebnis schon kannten, den Zuschauern aber nichts verraten durften. Mein Vater besaß allerdings ein feines Gespür für die Redeweisen der Reporter, und so geschah es im Verlauf einer Sportschau immer wieder, dass er schon nach wenigen Sätzen des Kommentators den Spielverlauf richtig vorhersagte. Vor allem bei den für uns so wichtigen Spielen des FC Bayern bestand die Gefahr, dass er kurz nach Beginn der Aufzeichnung, scheinbar aus heiterem Himmel, den Kopf schüttelte und sagte: "So wie der redet, verlieren sie." Ich konnte diese Kunst des Vaters zuerst nicht nachvollziehen, hatte keine Vorstellung, womit er diesen Verdacht begründete, doch mit der Zeit verstand auch ich, die Zeichen richtig zu deuten. Wenn der FC Bayern etwa bei einem vermeintlich leichten Gegner anzutreten hatte, kam es darauf an, wie stark der Reporter am Anfang die Übermacht des Teams herausstellte. Tat er das auffällig deutlich; wog er die Fans in Sicherheit und sprach von einer "lösbaren Aufgabe, die den Bayern nicht allzu viel Mühe abverlangen" würde, war Vorsicht geboten. Wenn dann, nach einem frühen Tor des Favoriten, sogar "alles nach Plan zu laufen schien", rümpfte mein Vater die Stirn, und es dauerte nicht mehr lange, bis er den verhängnisvollen Satz sprach. Und genauso passierte es dann auch: Nach dem 1:0 zur Halbzeit kam der Gegner "wie verwandelt aus der Kabine", schoss das 1:1 und kurz vor Schluss sogar noch den Siegtreffer.

Eine solche Niederlage des FC Bayern hatte dann auch immer Auswirkungen auf meine Disziplin im Aktualiseren der Steckabelle. Ich hätte das Bayern-Emblem von der Spitzenposition entfernen und etwa mit dem unsympathischen Wappen von Werder Bremen vertauschen müssen, dessen blasses Grün schon alles aussagte über die Farblosigkeit dieser Mannschaft. Also brach ich mit meiner Gewohnheit, die notwendigen Veränderungen noch während der Sportschau vorzunehmen, und hing die Tabelle in unverändertem Zustand wieder auf. Abend für Abend, vor dem Zubettgehen, fiel mein Blick auf die veraltete Reihenfolge der Embleme, und mit immer schlechterem Gewissen nahm ich mir vor, mich gleich am nächsten Tag wieder um eine sorgfältige Führung zu kümmern. Natürlich geschah das dann nicht mehr. Die Stecktabelle blieb die ganzen nächsten Monate über auf dem eingefrorenen Stand jenes frühen Spieltages, erstes Sinnbild der Ungeduld und des Nicht-bei-der-Sache-Bleibens, die sich später in anderen Bereichen, beim Erlernen eines Instruments oder beim Führen eines Tagebuchs, wiederholen sollte. Nur an einem langweiligen Feriennachmittag im Winter, zwischen Weihnachten und Neujahr, nahm ich den Karton noch einmal von der Wand und verwandelte die reale in eine utopische Tabelle, mit Werder Bremen auf Platz 18 und Überraschungsteams wie Waldhof Mannheim, FC Homburg und Arminia Bielefeld auf den UEFA-Cup-Rängen, gleich hinter den Bayern. So blieb sie dann hängen, bis im Juli die nächste Ausgabe des Kicker-Sonderheftes erschien.

Bald darauf kaufte ich mir die Zeitschrift nicht mehr. Andere Dinge wurden wichtiger als das möglichst vollständige Wissen über sämtliche Bundesliga-Vereine, und das Ende des Sportschau-Monopols, das fast ins gleiche Jahr fiel wie das Ende der Bundesrepublik, bekam ich nur noch als zeitweiliger Zuschauer mit, genauso wie das Auftauchen jener neuen, bis dahin nur aus dem Europacup bekannten Embleme von Mannschaften wie Dynamo Dresden oder Carl Zeiss Jena. Es verging vielleicht ein knappes Jahrzehnt, bis ich wieder einmal einen Blick in das Heft warf. Der Reiz der Stecktabelle war vollständig erloschen - ich trennte den Karton noch nicht einmal aus der Mitte des Heftes heraus -, doch abgesehen davon hatte sich die Art und Weise, wie ich das Heft las, nicht geändert. Wie damals richtete sich das Interesse sofort auf die Geburtsdaten der Fußballer, und auch wenn ich es hätte besser wissen müssen, erschrak ich ein wenig: Die ehedem magische Grenze von 1970 war von nahezu allen Spielern überschritten worden; die Jahrgänge 1972 bis 1974 bildeten den Durchschnitt, und es gab sogar ein paar Namen, hinter denen das Geburtsjahr 1980 oder 1981 stand: Zahlen, die ich zunächst kaum glauben konnte. Mitte der sechziger Jahre war dagegen kaum mehr einer geboren, höchstens ein paar Recken wie Thomas Helmer oder Jürgen Kohler. Ich legte die Zeitschrift mit einem Gefühl weg, das ich bis dahin nicht gekant hatte: dass eine im Geheimen stets offen gehaltene Option des eigenen Lebensweges, so illusorisch sie auch sein mochte, tatsächlich nicht mehr einzulösen war.

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