Das war die BRD (12):Die Juno-Zigarette

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Ich sah sie nie etwas essen. Sie rauchte, filterlos, Kette, selbstgedreht, Samson, halbschwarz, und eben, wenn ein Päckchen von Opi gekommen war: Juno. Trank schwarzen Kaffee, soff.

MATTHIAS ALTENBURG

(SZ vom 08.03.2001) - Dass irgendwas mit ihr nicht stimmte, ahnten wir ziemlich bald. So ganz genau wollte es allerdings niemand wissen. Jedenfalls nicht, solange sie mit uns ins Bett ging. Und mit wem wäre sie nicht dorthin gegangen?

Sie trank mein Bier, ich rauchte ihre Juno. (Foto: Tabak)

Warum sie das tat? Wer weiß, am Ende war es nichts als Mitleid. Mit uns, die wir glaubten, das Land umkrempeln zu können. Revolutionäre, wie wir uns nannten. Maulhelden, die wir waren. Nahmen wir uns eigentlich selber ernst? Mit unseren viel zu lauten Sprüchen, unseren viel zu großen Gesten und den viel zu feuchten Händen? Jedenfalls wurden wir ernst genommen, ernster, als uns lieb sein konnte.

Göttingen, Groner Tor, "Kleine Kommende". Sie hatte ihren Koffer am Eingang des Lokals stehen lassen und war neben mir auf den Barhocker gerutscht. Sie trug jene Wildlederstiefel, die wir Boots nannten und die auch damals schon längst aus der Mode waren.

"Spendierst du mir'n Bier? Kriegst auch 'ne Juno! Hab ich 'ne ganze Stange von."

Mit dem Kopf zeigte sie rüber in Richtung ihres Gepäcks.

Udo grinste über dem Zapfhahn.

Sie war gerade erst mit dem Zug in die Stadt gekommen.

Die Zigaretten hatte Opi ihr zum Abschied geschenkt.

Sie trank mein Bier, ich rauchte ihre Juno.

Sie schob einen Zettel über den Tresen, eine Adresse in Weende.

"Da werde ich wohnen. Hast Du ein Auto?"

Ich fuhr sie hin. Und wäre am liebsten für immer geblieben. Am zweiten Morgen meinte sie, ich solle jetzt aber doch erst mal wieder gehen, sie müsse sich ein wenig sortieren. Müsse ja nicht das letzte Mal gewesen sein. Sie sei ja jetzt da. Das heißt, wenn das für mich ok sei, dass man einfach ein wenig Spaß miteinander . . ., ohne sich gleich am Hals zu haben. Ich log und nickte. Ja sicher, ganz klar.

Ein halbes Jahr später konnten wir uns kaum noch vorstellen, dass sie jemals nicht dagewesen war. Sie machte alles mit, und bald machte sie uns alles vor. AStA-Zeitung, Infotisch, Transparente. Sie fand immer einen Dreh, es besser, schöner, effektiver zu machen. Sie machte es eben mit mehr . . . Ja was? Liebe? Nein, das nun gerade nicht. Aber mit mehr Hinwendung. Sie organisierte und agitierte, sie trank und kiffte, sie tanzte und lachte. Und selbst unter den Frauen, die anfangs um ihre Freunde gebangt hatten, gab es kaum noch eine, die sich nicht schon mal bei ihr ausgeheult hatte. Oder eben auch auf ihrer Matratze gelandet war. So jung sie auch war, die Neue galt als erfahren. Sie war unser Kraftwerk, unser Mülleimer, unsere kleine geile Göttin.

Seit jenem ersten Tag in der Kneipe nannte ich sie Juno. Sie selbst gab sich jede Woche einen anderen nom de guerre. Mal wollte sie "La Divina" genannt werden. Kurz darauf unterschrieb sie ihre Flugblätter mit "Die Zecke", dann war sie "Bombshell" und schließlich: "Pipilotta". Aber eigentlich hieß sie einfach nur: Ulrike. Tochter eines Zahnarztes aus Holzminden.

Mein Papa mit der kalten Hand, hatte sie den mal genannt. Und wir hatten wieder nicht nachgefragt. Die Mutter im Rollstuhl und stumm. Ohne Opi, den Guten, hätte von Familie längst keine Rede mehr sein können. Ihr Vater überwies jeden Monat soviel-er-eben-musste, das war's dann aber auch. Bei ihrem Vornamen hatte er seine Tochter schon seit Jahren nicht mehr genannt, seit die ersten Fahndungsplakate mit Ulrike Meinhofs Foto ausgehängt worden waren.

Ihre Fransenboots trug sie immer. Immer noch. Sommers wie winters. Selbst am Badesee: Oben Bikini, unten die Boots. Und sich immer in den Schatten verkrochen, dass die bleiche Haut sich nicht röte oder am Ende gar braun werde wie bei den Mallorca-Tussen mit Goldkettchen und Aldi-Dauerwelle.

Ich sah sie nie etwas essen. Sie rauchte, filterlos, Kette, selbstgedreht, Samson, halbschwarz, und eben, wenn ein Päckchen von Opi gekommen war: Juno. Trank schwarzen Kaffee, soff.

In Weende wohnte sie Souterrain. Ein Bad hatte sie nicht, nur eine Duschkabine, im Zimmer eingebaut. Obendrüber der Vermieter, ein Lehrer für evangelische Religion mit Solchenizyn-Bart und Familie. Hatte sie mal in der Garage betatscht. Sie ihn dann ebenfalls, warum auch nicht. Der hatte nur ein Ei, sagte sie. Und lachte ihr Kohlenkastenlachen. Und wir immer mitgelacht und Hoch die Tassen und Willste noch ein Glas voll Moskovskaja. Nee, lieber den mit dem Büffelgras, Name vergessen, egal, mit was Baileys gemischt. Hauptsache, es knallt.

Meine vagabundierende Sehnsucht war längst auf ein anderes Mädchen verfallen, trotzdem blieb ich immer mal wieder eine Nacht bei Juno. Es war ja auch so praktisch. Man konnte kommen und unbehelligt wieder gehen. Manchmal lagen wir nur auf der Matratze unter dem Foto von Allende, schauten an die Decke, redeten, kicherten, rauchten und tranken bis es wieder dämmerte. Manchmal stand Juno auf und schluckte ein paar Pillen. Wenn sie genug davon intus hatte, fing sie an zu spinnen. Sie schloss die Augen und erzählte, was sie sah. Es waren keine schönen Sachen. Finstere Männer, finstere Tiere, finstere Höhlen. Es muss raus, sagte sie. Wie es reingekommen war, erzählte sie nicht. Morgens waren unsere Nasenlöcher schwarz vom Ruß der Petroleumfunzel, und wir schauten uns an und kicherten wieder und legten rasch mal einen Joint nach, bevor wir womöglich zu Verstand gekommen wären.

Einmal, Maier und ich hatten die Nacht im "Clochard" getanzt, fuhren wir gegen Morgen raus nach Weende, um sie abzuholen, Flugblätter an die Frühschicht verteilen, irgend sowas. Wir klingelten, aber sie öffnete nicht. Wir gingen um das Haus herum und drückten unsere Nasen ans Fenster. Es brannte Licht. Sie kletterte aus der Duschkabine, trocknete sich ab, zog die Boots an und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Sie drehte uns den Rücken zu.

Maier, neben mir, grunzte.

"Hast du was gesagt?" fragte ich.

"Nee, nix, ich hab mir nur gerade vorgestellt, wie sie sich nach der Seife bückt."

Wir lachten so laut, dass sie sich umdrehte, die Augen zusammenkniff und zum Fenster spähte. Halbnackt wie sie war, ließ sie uns rein. Sie hatte geweint. Opi war gestorben. "Jetzt hab' ich gar keinen mehr", sagte sie und gab uns ganz nebenbei zu verstehen, was wir, im Zweifel, für sie waren.

Dann wurde es Herbst, das Wintersemester begann, in der Stadt fehlten vierhundert Zimmer. Die neuen Studenten kamen mit Zelten und Schlafsäcken. Anfangs ging das noch. Das Wetter war mild, die Sonne schien. Doch dann sanken die Temperaturen, und unsere große Zeit begann. Endlich. Endlich nicht mehr bloß Talk und Debatten und Laberrhabarber. Eine Demonstration folgte der anderen. Die riesige alte Augenklinik stand leer, also besetzten wir sie. Freilich, das Haus war marode. Jedesmal, wenn man einen Nagel in die Wand schlagen, einen Haken an der Decke befestigen wollte, brachen große Brocken Lehm heraus. Die Leitungen eingefroren, die Heizkörper herausgerissen. Die Polizei marschierte auf, Wasserwerfer, Gummiknüppel, Tränengas. Es wurde geräumt und wieder besetzt. Hin und her. Tag und Nacht. So ging das. Barrikaden, Straßenkampf. Die Luft brannte und wir brannten auch. Und Juno immer mittendrin, nein: vorneweg.

Einmal, ein letztes Mal war ich in jenen Tagen noch mit ihr zusammen. Es war eine schöne, entspannte Nacht. Irgendwann tauchte ihr Kopf aus meiner Achselhöhle auf und sie sagte: "Ich würde mich gerne mal richtig verlieben. Ich weiß überhaupt nicht, wie das ist."

Dann erfuhr sie es. Der Typ war ein Zottel. Blonder Engel. Tadzio im Armyparka. Tauchte auf und wieder unter, unzuverlässig. Pumpte sich dauernd von allen Geld. Wohnte mal hier und mal dort. Nicht gerade das, was wir einen disziplinierten Genossen genannt hätten. Aber sooo süß, sagte sie. Und superradikal. Wollte, dass wir endlich ernst machten. Brachte uns bei, wie man Molotow-Cocktails baut. "Auge um Auge", sagte er, und: "Die Gewalt kommt aus den Mündungen". Sie lebte auf, sang, pfiff vor sich hin. Lachte. Wurde noch aufgedrehter. Trieb uns an. Tadzio und Juno. Juno und Tadzio. Die beiden schienen unzertrennlich.

Dann, das neue Jahr hatte bereits begonnen, ließ sie die Bombe platzen: Sie würden heiraten, am 1. März, ihrem Tag, Göttin der Brautleute, Beschützerin der Frauen. Wir schluckten und staunten. Und sagten: Nein, du und heiraten, nie und nimmer.

Und wir behielten recht. Denn kurz bevor es soweit sein sollte, waren sie verschwunden, Juno und ihr Zottel. Ok, sowas kam vor. Aber ohne uns Bescheid zu sagen? Einfach so? Wo doch das nächste Flugblatt, die nächste Demo, die Besetzerversammlung . . .? Dass sie sich so mir nichts, dir nichts . . . verkrümelte?

Wahrscheinlich machen die schon Flitterwochen, sagte Towje.

Nee, das passt nicht, meinte Maier. Aber wer weiß.

Zwei Tage später, es hatte geschneit, Maier und ich saßen am Küchentisch und sahen, wie Towje über den Hof gerannt kam. Er winkte uns zu. Und rutschte immer wieder aus. Die weiße Katze des Nachbarn hielt kurz inne, äugte, dann wischte sie davon. Towje war aufgeregt. Er stieß die Tür auf. Er zog seine Fäustlinge aus und trampelte den Schnee von den Schuhen.

"Die Bullen ham' sie hopsgenommen."

Was jetzt?

Sie da rausholen! Ja, gut. Aber wie?

Es wurde geredet, geplant, verworfen.

Schließlich tauchte sie von selbst wieder auf. Sie blieb im Türrahmen stehen und schaute uns an. Stumm. Mit unbewegtem Gesicht. Dann legte sie sich auf die Couch, rollte sich zusammen und begann zu wimmen wie ein Baby.

"War es so schlimm?" fragten wir.

Sie schüttelte den Kopf.

"Nein", sagte sie, "es ist nur wegen Tadzio. Er hat mich verpfiffen. Er hat uns alle verpfiffen. Sie haben ihm Geld dafür gegeben."

Dann schlief sie ein. Irgendwann in derselben Nacht muss sie sich weggeschlichen haben. Zwei Tage hörten wir nichts von ihr. Dann machten Maier und ich uns auf die Suche.

In der alten Klinik fanden wir sie. Auf dem Dachboden. Zuerst sahen wir ihre Fransenboots. In Augenhöhe. Darunter auf dem Boden eine kleine, umgekippte Trittleiter. Das Seil hatte sie an einem Deckenhaken befestigt. Und diesmal hatte der Haken gehalten.

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