Das war die BRD (16):Der Pass

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Dann jedoch kam die Entwarnung, denn der Ausreiseantrag war genehmigt.

ANNE ZIELKE

(SZ vom 04.04.2001) - Es war ein Sonntagnachmittag, als ich das Passbild von meiner Mutter fand, zwischen Zetteln und Fotos in einem Karton. Da lebten meine Eltern längst in der kleinen Stadt bei Hannover, die das neue Zuhause geworden ist vor vielen Jahren. Seit dem Faschingsdienstag 1984, um genau zu sein, und vielleicht fällt mir das so wieder ein, weil meine blonde Mutter auf jenem Passbild verkleidet aussieht, mit dunklem Rollkragenpullover, schwarzhaarig, bleich, Schatten unter den Wangenknochen, die ganze auffällige Unauffälligkeit einer untergetauchten Terroristin. Wahnsinnsbild, das war das erste, was ich dachte, perfekt der irre, entschlossene Blick. Der zweite Gedanke war, dass ich sie so noch nie gesehen hatte. An die schwarzen Haare hätte ich mich erinnern müssen. So etwas vergisst man nicht, auch wenn die Jahre wie Nebel zwischen heute und dem Entstehungsdatum der Aufnahme liegen.

Keiner redete von Deutschland, von Geschichte. Kohls Wort von der Gnade der späten Geburt war kein Affront, sondern Konsens. (Foto: N/A)

Das Foto selbst stammt aus der Zeit vor dem Faschingsdienstag 1984, aus einem auf groteske Weise exotischen, jetzt unerreichbaren Land. Weil es das Land, in dem wir wohnten, nicht mehr gibt. Die Uniformen unserer Soldaten waren grau wie die Augen meiner Mutter, und der Schnitt hatte verblüffende Ähnlichkeit mit den Uniformen der Wehrmacht. Unser Pass war wunderbar blau, und wir: Wir waren damals weder das Volk, noch waren wir Deutsche; wir waren Staatsbürger der Republik. Alles andere hörte sich fremd an. Nicht richtig jedenfalls. Es gab einiges, was wir Staatsbürger mit dem blauen Pass machen konnten. Er sorgte für Stimmung und milde Schadenfreude, wenn jemand der Sinn nach einem misslungenen Passfoto mit einem falschen Lächeln stand. Im Sommer konnte man mit ihm Insekten zerdrücken, die zu winzig waren, als dass sie Mitgefühl erregt hätten. Aber vor allem war unser blauer Pass in seinem Überhaupt-Vorhandensein eine Art Beweis: Uns und unser Land gibt es wirklich. Da wird es den Fortschritt schon auch noch geben. Man musste es ja immer und ständig allen beweisen. Den Staatsbürgern. Und denen draußen, außerhalb der Grenzen, die das Land, das es nicht mehr gibt, in Gänsefüßchen setzten.

Was dumm war. Klüger wären jene Populisten gewesen, hätten sie das Land nicht in Frage gestellt und sich für die Anerkennung der DDR eingesetzt. Denn das wirklich Wichtige haben sie übersehen; vielleicht erschließt es sich auch nur im Rückblick: Erst wir gaben der Idee, die ein anderer, ein grüner Pass verkörpern sollte, einen Sinn. Wir sorgten für Stabilität. Ohne den blauen Pass hätte es den grünen nie gegeben. Je deutlicher die Demokratische Republik von der Bundesrepublik getrennt war, umso klarer und lauter konnte diese Ich schreien, sich heimisch und sicher vor Nationalismus fühlen in einem paradoxen Verfassungspatriotismus, unschuldig werden, BRD werden. Keiner redete von Deutschland, von Geschichte. Kohls Wort von der Gnade der späten Geburt war kein Affront, sondern Konsens. Die Wurzeln und das Faule waren Drüben, die DDR das nationale Unterbewusstsein, Hüterin verbannter Phantasien. Wie eine Sondermüll-Kippe auf einem anderen Planeten, hier Musterland, dort Mördergrube, und nur ein paar paranoide Intellektuelle wie Enzensberger, die erwartungsgemäß das eine noch immer für das andere hielten. Tatsächlich, die Welt war in Ordnung.

Am Faschingsdienstag 1984 ist nach zwei Jahren Wartezeit unser Ausreiseantrag genehmigt worden. Meine Eltern hatten die ungeheuerliche Idee gehabt, den blauen Pass gegen den grünen einzutauschen. Bevor wir der Grenze entgegenfuhren und mit dem abgelegten Faschingskostüm auch meine Kindheit in der DDR zurückblieb, hatte ich noch eine letzte sonderbare Begegnung in der Schule. Das Mädchen Grit, Tochter eines schwer atmenden Funktionärs, nahm mich zur Seite. Ihr vertrauter Schweißgeruch war beruhigend und abstoßend zugleich. Wir waren zwölf Jahre alt.

Da ist Krieg, verstehst du?

Ich verstand nicht.

Da, wo ihr hinwollt, sagte Grit. Weil so der Kapitalismus ist. Du musst dich entscheiden - willst du Krieg, oder willst du Frieden.

Als ich Jahre später im Karton das Terroristen-Passbild meiner Mutter, also ein Stück bis dahin verborgener Familiengeschichte fand, war mir erst recht klar, dass es in Wirklichkeit weitaus ernster war. Für den echten grünen Pass hätte meine Mutter auch ihr Leben aufs Spiel gesetzt, das gab ihm einen extremen Wert; einen falschen grünen Pass hatte sie sich schon besorgt. Es gab auch den Plan, im Schlauchboot über die Ostsee zu paddeln. Das haben sie tatsächlich so gemeint. Nur war die quälende Frage immer, wie man die Familie zusammenbehalten sollte. Dann jedoch kam die Entwarnung, denn der Ausreiseantrag war genehmigt.

Die naive Klarheit von Grit hat mich aber sehr beeindruckt. Es schien auch genügend Belege für ihre These zu geben, aus ihrer Sicht: Im DDR- Fernsehen der singende Amerikaner Dean Reed, der es vorgezogen hatte, aus den Südstaaten in den Oststaat zu ziehen. Weil Krieg war und der Ku-Klux-Klan die Schwarzen tötete. Karl Jaspers hatte seinen BRD-Pass abgegeben. Weil die Faschisten längst den Dritten Weltkrieg vorbereiteten. Manfred von Brauchitsch, der Silberpfeil-Pilot, war bei Nacht und Nebel in die DDR geflüchtet, und das sicherlich nicht, weil unsere Autos schneller gewesen wären. Erst später kam mir der Gedanke: dass es genau diese Logik war, Grits Logik, wieder bis zur Erkenntlichkeit umgedreht, die der alten BRD ihre Identität gab. Wenn da drüben das Böse war, musste die eigene Seite die gute sein. Nur in einem irrte Grit. Was sie auf Krieg und Frieden reduzierte, hatte in erster Linie nichts mit Kapitalismus zu tun. Der Konflikt war ein anderer: Es ging immer um nationale Identität. Dabei schienen beide deutsche Staaten das Problem gelöst zu haben, über eine Abgrenzung zum jeweils anderen.

Als wir den BRD-Pass bekamen, hat man es ihm sofort angesehen, die einstige Idylle und die Abwesenheit des Zweifels. Die historische Farbe des wohlhabenden Bürgertums leuchtete da, neu interpretiert als Hoffnung, Zuverlässigkeit, Sicherheit: Alles im grünen, im westdeutschen Bereich. Ein unverdächtiges Terrain. Man war nur stolz auf das, was man geleistet hatte. Die grüne Farbe signalisierte nichts Nationales, sondern letztendlich eine materielle Haltung. Sie bedeutete Wohlstand für alle. Das war, bevor sich das Land nach rechts ausbreitete, auf der Landkarte und auch im Geist; bevor man wieder Deutschland sagte. Dieser Begriff kam schleichend auf, fast unbemerkt, wie jede Veränderung der Sprache.

Zuvor hatte man immer nur von Bundesrepublik gesprochen. Ich verstand es sofort, es war das Gleiche wie in der DDR. Nur dass sie hier nicht Staatsbürger der Republik, sondern Bundesbürger sagten. Das lernte ich, kaum dass ich in der BRD war, von meinem niedersächsischen Onkel. Er saß auf seinem Sofa, das grün war wie der Pass und der Wohlstand, ließ seinen Nachbarn schwarz bei sich im Garten arbeiten und setzte, weil er schlau war, seinen trägen Dackel als Jagdhund von der Steuer ab. Bis der von einem Schäferhund totgebissen wurde. Bei uns hier, sagte damals der Onkel auf dem Sofa, bei uns hier sagt man Bundesrepublik. Und innerhalb dieser Republik gab es Münchner, Hamburger, Bremer, eingeschworen auf ein Grundgesetz, verkörpert in der Unschuld des grünen Passes. Innerhalb der BRD gab es Deutschland nicht.

Im Sommer nach der Ausreise fuhr ich mit einer Freundin und deren Eltern zum Zelten an die Adria, auf eine istrische Insel. Die Pinien dufteten. Janina und ich verglichen täglich unsere Bräune, kicherten, wenn Körper in den Nachbarzelten Rhythmen vorgaben, die wir nicht kannten. Auf einem Markt in der Nähe des Campingplatzes kaufte ich ein türkisfarbenes Strandkleid. Wir aßen CevapCici und waren glücklich. Eines Mittags fielen uns zwei Jungs am Strand auf. Wo die wohl her sind?, erkundigte ich mich bei Janina. Sie zuckte mit den Schultern: Aus Deutschland, glaube ich.

Aus Deutschland.

Wo sie doch aus Bremen waren.

Denn während der grüne Pass im eigenen Land die Bundesbürger als Gemeinschaft schuf, hatte er noch seine andere Funktion, in der er sich vom DDR-Pass unterschied: Mit ihm konnte man auch Grenzen überschreiten. Und damit fand jene Deutschwerdung statt, die es innerhalb der alten BRD nicht gab. Sobald man sie verließ, waren wir keine Bundesbürger mehr. Auf einmal waren wir Deutsche unter Deutschen, deutsche Touristen allesamt. Sie haben uns das angesehen, und umgekehrt erkannte man sie schnell. Sie stopften sich CevapCici rein und waren glücklich in der Sonne. Und vielleicht haben die Bundesbürger genau deswegen so schnell mit dem Reisen angefangen: Weil sie so auch in aller Unschuld, zwischen Ein- und Ausreise, Deutsche sein konnten. Sie eroberten mit ihrem Pass die Welt.

Heute gehört ihnen auch die BRD, seit mit dem Wegfallen der innerdeutschen Grenze die schöne Kollektivillusion geraubt ist, dass der Verfassungspatriotismus den Nationalgedanken ersetzt habe. Der grüne Pass ist durch einen anderen ersetzt worden. Statt öffentliche Wertvorstellungen an der Normativität der Gesetze zu messen, geistern diffuse Kulturbegriffe umher. Die Idylle ist verschwunden, genau wie der grüne Pass. Und manchmal frage ich mich, was aus Grit geworden ist. Ob sie mir nochmal dieses Land erklären könnte. Wir sind jetzt neunundzwanzig Jahre alt und haben längst wieder den gleichen Pass.

ANNE ZIELKE

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