Das Paradox von blödelnder Masse und Bildungselite:Schlampe '06

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Die Bildungskatastrophe und die Eliten, die Wertedebatte und die Perspektivlosigkeit - das alles in geistlosen Dämmer versetzt von einer heillosen Macht des Vulgären aus den Massenmedien: Ist das Deutschland?

Gustav Seibt

Widersprüchliche Nachrichten dringen aus dem deutschen Bildungssystem. Auf der einen Seite hört man Hilferufe von unten, aus den Hauptschulen, wo unter Jugendlichen - mit und ohne "Migrationshintergrund" - anarchische Zustände herrschen sollen. Auf der anderen Seite erfährt man, dass an den Gymnasien die totgesagten Alten Sprachen sprunghaft neues Interesse finden. Bürgerkinder lernen wieder Latein und Griechisch, sie schärfen an komplexer Grammatik ihren Geist und bilden an klassischen Texten kulturhistorisches Bewusstsein. Die Hauptschüler dagegen verwahrlosen im Dschungel der Medien, üben sich beim Produzieren fieser kleiner Gewaltvideos ("happy slapping") und sagen ihren Lehrern oder - wie neulich bei Maybrit Illner geschehen - einem Politiker ins Gesicht, dass diese "Scheiße reden", vermutlich nicht einmal aus besonderer Aggressivität, sondern weil sie grade keinen anderen Ausdruck zur Hand haben.

Harald Schmidts höhnische Rede vom "Unterschichtenfernsehen" benennt die Wahrheit. (Foto: N/A)

Die einen also werden mit Musikunterricht und wertvollen Kinderbüchern gepäppelt, die anderen nennen einander schon im Volksschulalter "Schlampe" und "Opfer"; hier Hexameter und Sprachferien im Ausland, da Drogen und Handyschulden, hier Google und Wikipedia, da Zombiefilme oder Killerspiele im Internetcafé. Das sind die Pole, und sie sind nur unwesentlich überzeichnet.

Sie lassen sich auch noch geografisch differenzieren - zwischen Lehel und Hasenbergl oder Wilmersdorf und Wedding. Die zerklüftete Bildungslandschaft spiegelt, so sagt es derzeit jeder, eine neuerstehende Klassengesellschaft. Entscheidend ist, dass diese Pole aufeinander reagieren. Neue Bürgerlichkeit grenzt sich ab von neuen "Unterschichten", auch in der Erziehung. Das Bewährte humanistischer Bildung soll auch der Statuserhaltung dienen und den Horror des Abstiegs bannen. Jugendliche aus dem Hartz-IV-Milieu bekommen oft nicht einmal Ausbildungsplätze, um wenigstens den Versuch zu unternehmen, auf eigene Füße zu kommen. Warum sich also anpassen? Die ausbildenden Betriebe stellen dann eklatante Mängel beim Schreiben und Rechnen fest, die den Nachwuchs für den anspruchsvollen Berufsalltag einer hoch technisierten Wirtschaft unbrauchbar machen.

All das ist schlimm, und es wird Eltern und Politik in den nächsten Jahren in Atem halten. Die Bildung, die ein gesellschaftlich verbindendes und ausgleichendes Element, ja das ideale Medium der sozialen Mobilität sein sollte, sie trägt gegenwärtig zur Spaltung der Gesellschaft bei. Dazu kommt, dass wir dabei sind, eine Generation unzulänglich ausgebildeter Jugendlicher zu verlieren, die schon in wenigen Jahren auf einem ausgebluteten Facharbeitermarkt fehlen werden, zu schweigen von Ärzten und anspruchsvollen Dienstleistern, die eine Gesellschaft mit sehr vielen Senioren benötigen wird. Schon in zehn Jahren kann uns die verrückte Situation ins Haus stehen, dass wir höchstqualifizierte Arbeitskraft in Massen aus Osteuropa oder den asiatischen Schwellenländern anwerben müssen, während wir Millionen alter Dauerarbeitslosen durch Beschäftigungsagenturen schleusen.

Das Wort "Bildungskatastrophe", das in der Bundesrepublik vor vierzig Jahren seine erste Konjunktur erlebte, es hat wieder den Geschmack von Wahrheit.

Deutlicher als vor vierzig Jahren aber ist auch, dass sich diese Katastrophe innerhalb des Bildungssystems allein nicht beheben lassen wird - so nötig dort Verbesserungen, vor allem eine verbesserte Ausstattung, sind. Chancenlosigkeit und mangelnde Integration sind nach wie vor überwiegend wirtschaftliche Probleme, die in den Hauptschulen ankommen, um dort wieder verschärft zu werden. Jugendliche mit realen Chancen werden sich eher anstrengen, und Einwandererkinder, die Arbeit haben, integrieren sich auch sprachlich und kulturell. Die negativen Trends lassen sich im Ausbildungssystem abmildern, doch nicht aus der Welt schaffen.

Die Hauptschulverwahrlosung ist nur Teil eines großen Komplexes sozialer Deklassierung, in dem Dauerarbeitslosigkeit, zerrüttete Familien, generationenlange Gewöhnung an staatliche Unterstützung eine ebenso große Rolle spielen wie die Überforderung von Lehrern - diese sollen ja längst nicht nur Schulstoff vermitteln, sondern erst einmal elementare soziale Fähigkeiten wie konzentriertes Zuhören oder menschliche Rücksichtnahme mit den Kindern einüben. Im Extremfall muss so ein Hauptschullehrer das Elternhaus von dreißig Schülern in einer Schulklasse ersetzen, und das nach Stundenplan. Dass dies nicht gelingen kann, ist selbstverständlich. Durch den Einsatz von Sozialarbeitern, Streetworkern und Quartiermanagern - und wie die neuen Berufe im Zwischenfeld von Schulen, Polizei und örtlichen Verwaltungen sonst noch heißen mögen - wird auf diese Notlage bereits reagiert.

Früher galt für verzärtelte Bürgerkinder "die Straße" als bedrohliches Terrain, wo man in Kontakt kam mit den weniger behüteten Sprösslingen anderer Schichten. Das waren die "Schmuddelkinder", von denen man sich fern zu halten hatte - ohnehin war der Bürgernachwuchs stärker als diese ausgelastet durch Klavierspielen, Urlaub in der Ferne und anderes kulturelles oder sportliches Training. Es gibt in Vierteln wie Berlin-Neukölln die "Straße" immer noch, und noch immer kann sie ein wilder Ort sein. Detlev Bucks Film "Knallhart" führt ihn melodramatisch, aber plausibel vor. Quartiermanagement hat seinen Sinn, es soll den öffentlichen Raum zugänglich für alle halten und unterstützt dabei die Sozialisation von Jugendlichen jenseits ihrer Problemfamilien.

Trotzdem hat diese Zuwendung durch Sozialarbeit etwas rührend Hilfloses und Vormodernes: Der öffentliche Raum, in dem Kinder und Jugendliche sich bewegen, ist ja längst nicht mehr nur oder in erster Linie die "Straße". Es ist der ganze Raum der Medien - vom Fernsehen übers Internet bis zu jenen Mobiltelefonen, deren Gebrauch in bayerischen Schulen jetzt verboten werden soll.

Dieser virtuelle Raum verfließt mit der "Straße", denn digitale Snuff-Videos können per Handy auf dem Schulhof - oder doch eher auf dem Schulweg - getauscht werden, und der PC-Anschluss steht in armen Quartieren eher im Internetcafé als daheim, also an der Straße. Neukölln ist voll von kleinen Internetbahnhöfen und Handystationen.

Der virtuelle Raum lässt sich weniger gut überwachen als der physische, und heute sind nicht immer die Jugendlichen besonders gefährdet, die sich an der lobenswerten "frischen Luft" mit anderen raufen, als vielmehr jene, die reglos und überernährt im Dämmer von Netzcafés auf den Müllhalden des World Wide Web spazierengehen. Oder jene, die zu Hause hocken bleiben und den Fernseher anschalten, um auf sich zukommen zu lassen, was die Nachmittagsprogramme so bieten. Oder die sich jene Pulp-Fiction holen, die in den DVD-Läden die höchsten Ausleihquoten haben.

Unsere Bildungskatastrophe hat neben ihrer ökonomischen und sozialen Seite einen kulturell-medialen und, ja, moralischen Hintergrund.

Wer von Erziehung sprach, musste schon immer von Kultur reden; doch dieser Zusammenhang hat längst eine abgründige Dimension. Sie ist, unter anderem, beschlossen in dem Bonmot des Historikers Herfried Münkler, der einmal erklärte, als man das Privatfernsehen zuließ, man gleichzeitig die Ganztagsschule hätte einführen sollen.

Mit dieser Feststellung ist eine ernste Klassenfrage gestellt: Denn es sind die armen Schichten, die eher auf eine solche Ganztagsbetreuung angewiesen sind als die besser gestellten. Harald Schmidts höhnische Rede vom "Unterschichtenfernsehen" benennt die Wahrheit. Reiche Leute haben die Möglichkeit, ihre Kinder sinnvoll zu beschäftigen, auf sie aufzupassen, sie von den Rohheiten der virtuellen "Straße" fern zu halten und sie in einen verantwortlichen Medienkonsum einzuüben. Dagegen erreichen die Dreckfluten des medialen öffentlichen Raums die neuen Unterschichten - die man gönnerhaft gern als "bildungsfern" bezeichnet - überwiegend ungefiltert. Umweltverschmutzung hat die Quartiere der Armen schon immer ungleich stärker betroffen als die Wohngebiete der Reichen.

Dass arme Kinder heute größere Chancen haben, auch seelisch und moralisch zu verkommen, ist ein Skandal, der erst allmählich ins allgemeine Bewusstsein dringt. Wir erleben das Aufkommen einer medialen Klassengesellschaft, wo die einen staatlich geprüftes Jugendkino sehen und danach vielleicht zum Buch greifen, während die anderen mit Zombie-Movies verstört werden. Manche freilich müssen drunten sterben, wo die Untoten mit Maschinengewehren durch die Städte gehen, während anderen die Stühle gerichtet sind in zierlichen Märchenwelten. Es gibt nicht nur die Kluft bei der Ernährung, wo Fettleibigkeit durch Pommes zum Klassensignal wurde, während der besorgte Mittelstand sein Geld in Bioläden lässt: Es gibt auch den Zwiespalt bei der seelischen Nahrung, und das in einem Alter, in dem alle Eindrücke kaum verwischbare Folgen haben.

Der neue Trend zur Bildung ist auch eine Reaktion auf solche Bedrohungen - im Gesamtzusammenhang der mittelständischen Furcht vor sozialer Deklassierung, beispielsweise durch Hartz IV. Die Politik reagiert auf die virulente Gefahr der moralischen Verwahrlosung ganzer gesellschaftlicher Gruppen vorerst mit einer Integrationsdebatte und einem Appell zur "Werte-Erziehung", für den sie den Beistand der Kirchen sucht.

Bemerkenswerterweise rufen nach Werten nun die neuen Helden jenes CDU/CSU-Bürgertums, das noch vor 25 Jahren - zum Beispiel in Gestalt von Ernst Albrecht und Franz Josef Strauß - am energischsten für die Einführung des Privatfernsehens kämpfte, und das also maßgeblich verantwortlich war für die medialen Auswürfe an Dreck, die uns von dort aus (neben manch ambitionierter Spartenaktion) täglich anweht.

Fatal ist, dass die Gesellschaft sich heute in ihrer Breite so gut wie wehrlos gegen die Vulgarität gemacht hat.

Schon der Begriff Vulgarität - Adorno definierte ihn als "Einverstanden sein mit der eigenen Erniedrigung" - verbietet sich eigentlich, denn er scheint sich gegen das Volk zu richten, von dem alle Staatsgewalt ausgeht. "Bis vor wenigen Jahrzehnten", schrieb nun Max Goldt, "war die kulturell prägende Gruppe in Deutschland die obere Mittelschicht. Heute ist es die untere ...Was wird folgen? Wird es so kommen wie in Nordamerika, wo einer mäßig fröhlich vor sich hinblödelnden Masse eine Bildungselite gegenübersteht, die sich so unglaublich ersatzgräflich und weinkennerhaft aufführt, dass es einem graust?"

Ja, alles spricht dafür, dass es genau so kommen wird.

Symptomatisch für das Problem mit der Vulgarität ist die schwankende Geschichte des Verhältnisses der Intellektuellen zu Boulvardmedien aller Art - und hier natürlich besonders zur Bild-Zeitung. Als Organ von demagogischer Hetze und Machtmissbrauch war sie das zentrale Hassziel der Studentenbewegung. Von Böll bis Wallraff haben sich Schriftsteller an ihr abgearbeitet. Die Bild aber blieb, was sie war, und wenn sie ein wenig von ihrem kalten Kriegertum und ihrer Intellektuellenfeindschaft abzulassen schien, so lagen dem weniger eigene Lernprozesse als gewandelte politische Umstände zugrunde.

Im Jahre 1983 ratifizierte dann Hans Magnus Enzensberger in der Zeitschrift Merkur mit seiner Beschreibung des "Barockblatts" eine friedliche Koexistenz zwischen den Intellektuellen und dem Massenblatt - derselbe Enzensberger, der mit der Formel vom "Nullmedium" auch die Kulturkritik am Fernsehen mit sarkastischer Resignation auf Eis legte. Mit Bild müsse man leben wie mit der Bombe, als einer abgründigen Möglichkeit menschlicher Freiheit. Bald war es ein Signal intellektueller Spritzigkeit, sich auch mal empfänglich für die fauligen Reize des Boulevards zu zeigen.

Der Trend zur Verseifung selbst ehemals bürgerlicher und gebildeter Reviere in den Medien - und dazu zählte in seinem oft heiligen und nicht unkomischen Ernst früher zum Beispiel auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen-, auch er ist Ausdruck einer Art lustvoller Resignation der Gebildeten gegenüber der Macht der Vulgarität in Inhalt und Form.

In der gegenwärtigen Erziehungsdebatte nun wird auf mechanische und bezeichnende Weise nicht vom Boulevard, sondern wieder einmal von den 68ern Abschied genommen. Dabei könnte es sich im Gegenteil als hilfreich erweisen, von der alten linken und längst begrabenen Unversöhnlichkeit gegen die Kulturindustrie wieder zu lernen.

Einige Ansätze neuer kultureller Strenge sind nicht zu übersehen, nicht zuletzt unter dem Eindruck der ungebrochenen politischen Kampagnenfähigkeit der Bild, wie sie sich im jüngsten Wahlkampf zeigte oder in der aktuellen Hetze gegen Norbert Lammert und seine Versuche, die Abgeordneten-Besoldung im Bundestag zu reformieren. Abstoßend bleibt auch die Moral des Blattes. Wer einen konkreten und aktuellen Beitrag zur Werte-Debatte lesen will, der sollte den brillanten Essay studieren, den der Schriftsteller Gerhard Henschel, wiederum im Merkur, im jüngsten Dezember-Heft, unter dem Titel "Von Tag zu Tag wird's schmutziger" über "Bild als Kulturproblem" veröffentlicht hat. Henschel hat sich der Mühe unterzogen, im Sommer und Herbst 2005 regelmäßig Bild zu lesen, also in der Zeit des Türck-Prozesses - ja, es ging um den Blowjob auf der Frankfurter Brücke - und dem "Penis-Riss" eines Bundesliga-Spielers.

Daneben lässt Henschel seine Blicke auf dem Anzeigenteil ruhen: "Ordinäre Olle mit dicken Dingern", "Versaute Türkin zu allem bereit" - und er fragt, was bürgerliche, ja christliche Politiker in dieser Umgebung als Interviewpartner zu suchen haben; und er könnte heute fragen, warum der evangelische Bischof Huber seine (voreiligen) Ansichten zur Familie Sürücü ausgerechnet einer Zeitung anvertraut, wo man Frauenbrüste als "Hupen" oder "Schaumglocken" bezeichnet.

Natürlich ist Henschels Tirade vor allem eine literarische Katharsis ohne Hoffnung auf Konsequenzen. Man würde sich nur wünschen, dass die nachweisbar kultivierten Damen und Herren, die für die Rohheiten und Seelenanschläge im Fernsehen und in den Boulevardmedien publizistisch und redaktionell verantwortlich sind, die sechs Seiten aus dem Merkur einfach einmal lesen.

Eltern und ihren Kindern ist mit diesem intellektuellem Gegenzauber natürlich kaum gedient - ebenso wenig wie mit Wertedebatten, die von jenen angestoßen werden, die sich neben der Nackten von Seite eins moralisch auslassen. Ja, auch christliche Kindergärten sollten den Kleinen schon Fairness im Spiel, Gewaltverzicht und Toleranz beibringen, also zivilisatorisch an einer Erziehung gegen die Vulgarität arbeiten. Je älter und schlauer die Kleinen aber werden, umso dringender benötigen sie eine Medienerziehung - in Zeiten des mächtigen "Unterschichtenfernsehens" durchaus als Mittel gegen die wachsende soziale Spaltung.

So wie man den Kleinen beibringen muss, nicht bei Rot über die Straße zu laufen, so muss man ihnen nun auch klarmachen, dass Medien kraft ihrer Technologien und Unverfrorenheiten krank an der Seele machen können.

Der feintuerische Hohn gegenüber der Kulturkritik - er muss sein Ende finden, wo es um die Seelen der Kinder geht.

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