Das neue Album von "Guns N'Roses":Warten auf die Endabmischung

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Seit fast zehn Jahren wird das neue Album von "Guns N'Roses" immer wieder angekündigt, doch immer wieder bleibt es bei der Ankündigung. Und das ist auch gut so. Von Oliver Fuchs

Diese Geschichte handelt von Männern, die seit Jahren nichts mehr gebacken bekommen. Keine Platte. Kein Konzert. Nichts. Nein, niemand kann sich genau erinnern, wann das neue Guns-N'Roses-Album erstmals angekündigt wurde, es muss irgendwann Mitte der neunziger Jahre gewesen sein.

(Foto: N/A)

Im Jahr 2000 teilt die Plattenfirma Interscope mit, dass mit der Veröffentlichung des neuen Guns-N'Roses-Albums "noch im selben Jahr" zu rechnen sei; im Frühling 2001 heißt es, das neue Guns-N'Roses-Album erscheine "ganz sicher spätestens im Sommer"; im Jahr 2002 wird gemeldet, dass das neue Guns-N'Roses-Album "selbstverständlich in naher Zukunft" komme; im Jahr 2003 befindet sich das neue Guns-N'Roses-Album im Stadium der "Endabmischung"; im Jahr 2004 wird "letzte Hand" an das neue Guns-N'Roses-Album gelegt sowie "am Feinschliff" gearbeitet, eventuell aber auch noch mal komplett umgeschmissen.

Kürzlich nahm die Plattenfirma das neue Guns-N'Roses-Album aus ihrer Ankündigungsliste. Darauf wechselten Guns N'Roses die Plattenfirma. Jetzt teilt die neue Plattenfirma mit, dass das neue Guns-N'Roses-Album "nicht mehr lang" auf sich warten lasse. Der beste und kürzeste Witz, den die an Witzen nicht arme Musikindustrie auf Lager hat, besteht aus fünfeinhalb Worten: "Das neue Guns-N'Roses-Album". 13 Millionen Dollar Produktionskosten sind bisher angefallen. Es ist das teuerste Album der Musikgeschichte, das nicht erschienen ist und vielleicht nie erscheint.

13 Millionen Dollar. Für nichts. Und nichts. Und nochmal nichts.

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich mag diese Typen. Ich bin Fan. Ich lese alles, was ich in die Finger bekomme, jede People-Meldung, auch wenn nur drinsteht, dass Axl Rose sich ein Paar lange Unterhosen gekauft hat. Und ich schaue mindestens zweimal pro Woche auf die offizielle Band-Website, obwohl man den "News"-Button nicht anklicken kann und unter "aktuelle Tourdaten" auf ein Konzert in Rio de Janeiro am 14. Januar 2001 hingewiesen wird.

Es ist eine Art Obsession. Ich kann es nicht erklären. Andere Leute schwärmen für Wolf von Lojewski oder legen sich ein Album an mit Fotos von Hannelore Hoger oder sind Fußfetischisten. Bei mir ist es halt Guns N'Roses.

Ihre Geschichte beginnt damit, dass zwei smalltown boys, Axl Rose und sein Kumpel Izzy Stradlin, die Schnauze voll haben von der High School und vom Mittleren Westen und abhauen ins Gelobte Land, der Sonne entgegen, nach Kalifornien. Fluchtpunkt L.A.: Take me down to the paradise city, where the grass is green and the girls are pretty . . . Axl ist ein leicht erzürnbarer junger Mann mit reichem Gefühlshaushalt, die Ärzte nennen das manisch-depressiv. Er verbringt mehr Zeit im Gefängnis als in der Schule. Izzy ist ein Stoiker. Er nuschelt schon lang, bevor er heroinsüchtig wird, leise in sich hinein wie ein weiser, alter Junkie.

In der Paradiesstadt treffen die beiden auf Gleichgesinnte, einen Typen mit einem Zylinder-Tick, der sich "Slash" nennt und der schon zum Frühstück die erste Flasche Jack Daniel's leert. Slash ist gut befreundet mit Steven Adler, seit die beiden bei einem Skateboard-Unfall aufeinander prallten, worauf sie das Skateboard sein ließen und fortan lieber auf Gitarre und Schlagzeug herumsauten. In abgetakelten Clubs und Wohnzimmern und bei irgendwelchen Leuten hinten im Garten geben Guns N'Roses, weil das Geld zum Proberaum nicht reicht, Learning-by-doing-Konzerte. Slashs Gitarre quiekt wie ein Rudel frischgeborener Ferkel, Adler trommelt wie ein Geistesgestörter, aber die Hauptattraktion ist natürlich Axl, der Verse kräht, die von der Gosse handeln und von der Sonne, vom höchsten Glück und vom tiefsten Schmerz. Und vom Tod. "Es war wie bei einem Verkehrsunfall", notiert ein Chronist über die frühen Auftritte, "absolut schrecklich -- aber man konnte nicht wegschauen."

Axl Rose wird Steven Adler später feuern wegen seines "Heroin-Problems". Adler wird beteuern, dass er mit Heroin nichts am Hut hatte, bevor Axl Rose ihn aus Erwägungen hinsichtlich corporate identity zum Mitspritzen zwang.

Eigentümlich, diese Mischung aus Todessucht und Todesverachtung. Im Kern handeln alle Guns N'Roses-Lieder vom Tod. Davon, ständig in Augenkontakt zu sein mit dem dunklen Gebieter, sich in seine Nähe zu saufen und zu huren -- und ihm im letzten Moment dann doch die Zunge rauszustrecken. Schon mit Mitte 20, auf der Hülle ihres ersten Albums "Appetite for Destruction", sehen sämtliche Bandmitglieder derart zerschossen, ruiniert und jenseitsfertig aus, wie es Rockmusikern eigentlich erst nach drei Welttourneen und fünf Scheidungen zusteht.

Am Tag, als "Appetite for Destruction" erscheint, erschüttert ein schweres Erdbeben Los Angeles. Fenster klirren, Gärten werden umgegraben, Häuser knicken um wie Pusteblumen. Axl Rose, der Magie nicht abgeneigt, fühlt sich bestärkt, dass er und seine Männer etwas Großes geleistet haben. Es muss ja groß sein -- wenn sogar der Sankt-Andreas-Graben Applaus spendet!

Im unterfränkischen Karlstadt am Main ist davon nichts zu spüren. Noch nicht. Ich jedenfalls bin 1987 nicht bereit für Guns N'Roses. Ich lerne fürs Abitur und höre sensible Schlaumichel-Musik. Aber meine Schwester erkennt mit dem untrüglichen Instinkt der 14-Jährigen, dass uns diese Männer mit ihren geschmacklosen Tattoos und affigen Kopfbedeckungen etwas Wichtiges mitzuteilen haben. Fünf Jahre später, als Guns N'Roses längst ihr postraffaelitisches, ja spätbarockes Monumental-Doppel-Doppel-also-eigentlich-Vierfach-Album "Use Your Illusion I + II" veröffentlicht haben, begleite ich meine Schwester zum G'N'R-Konzert auf die Talaverawiese vor den Toren Würzburgs. Am Ende regnet es. Dann Blitz und Donner. Ein Orkan bricht los. Die halbe Wiese wird weggeschwemmt. Schlammbespritzt und glücklich taumeln wir zum Auto. Da wird auch mir klar, mit oder ohne magischem Denken, dass das hier gewaltige Musik ist. Hätte ich eigentlich auch früher drauf kommen können.

Den Würzburger Wolkenbruch muss man sich so ähnlich vorstellen wie das Gewitter am Ende des großartigen "November Rain"-Videos, in dem Axl Rose die überirdisch schöne und mit einem sehr versauten Straps-Hochzeitskleid angetane Stephanie Seymour heiratet, in einer kleinen Kapelle, in der gleichzeitig ein Riesen-Konzert stattfindet, seltsam, Slash ist Trauzeuge, wie immer mit Kippe im Mund, irgendwann schlurft er nach draußen, ohne irgendwas in der Hand zu haben, vor der Kapelle steht er plötzlich mit Gitarre da, allein mitten in der Wüste, auch merkwürdig, und stellt sich breitbeinigst hin und spielt vor stahlblauem Himmel ein bestimmt 45-minütiges Solo, gniedel gniedel quiek quiek, und wird dabei von mindestens zwanzig Kameras umkreist, von links und rechts, von vorne und hinten, vom Hubschrauber aus, dann stirbt die Braut und es blitzt und donnert -- was für ein herrliches Durcheinander! Man kapiert nichts und begreift doch alles. "November Rain" ist, wie fast das komplette Guns-N'Roses-Werk, kitschig, ölgetränkt, borniert, männerverherrlichend, frauenverniedlichend, hochideologisch, überreaktionär -- kurz: es rührt einen jedesmal zu Tränen.

Was Guns N'Roses selten hatten: Esprit. Ironie. Originalität. Doppelbödigkeit. Mehrdeutigkeit. Hintersinn.

Was Guns N'Roses dafür immer hatten: Lieder zum Aus-dem-Fenster-springen, Lieder zum Gashahn-Aufdrehen, Lieder zum Pulsadern-Aufschlitzen, und dazwischen die orangenzartesten und melonensüßesten Liebeslieder, die unter kalifornischer Sonne überhaupt denkbar sind.

Nicht verschwiegen werden soll an dieser Stelle, dass in dem strunzdummen Song "One In A Million" gegen Schwule und Einwanderer geätzt wird. Izzy Stradlin sagte einmal, auf "One In A Million" angesprochen, in seinem schleppenden Heroin-Singsang, dass er das Stück selber auch nicht ausstehen kann. "But at the same time, y'know, this is just fuckin' rock'n'roll music. When it's fucked up, it's more interesting. Whoever said this was responsible music, y'know?"

Mit "Use Your Illusion" haben Guns N'Roses 1991 einen Grad an Schönheit und Klarheit, aber eben auch Verkommenheit, Kaputtheit und sozusagen fucked-upness erreicht, hinter den es kein Zurück gibt. Und von wo aus es nicht weitergehen kann. "Use Your Illusion" war einfach zu kaputt, zu perfekt. Ergo: Es kann gar kein neues Guns N'Roses-Album geben, nimmermehr. Weil das Modell Monster-Rock nicht ausbaufähig ist. Weil diese Band derart mit sich identisch ist, dass an eine Entwicklung irgendwohin nicht zu denken ist.

Weiß Axl Rose das, wissen das die wartenden Fans? Wartet außer mir überhaupt noch jemand?

Entgegen einem weit verbreiteten Geschmacksvorurteil haben Guns N'Roses nie wirklich Heavy Metal gemacht oder Hard Rock oder Punk-Rock. Die korrekte Genrebezeichnung ist: Sleaze. Schmierentheater. Alles was sie anfassen, auf ihrem kurzen Zenit, verwandelt sich zu Schmiere. Und dann zu Geld.

Es gibt 1993 mit "The Spaghetti Incident" einen zaghaften Versuch, zu alter Schmieren-Form aufzulaufen, erfolglos -- und so nimmt die Schmierentragödie ihren Lauf. Axl Rose zankt sich mit dem Rest der Band, ekelt raus, feuert -- bald ist er das einzige noch aktive Mitglied der Originalbesetzung. Er schließt sich mit 60 Gitarren in einem sündteuren Studio ein, verschleißt binnen kurzer Zeit vier Produzenten, produziert aber dabei nur Material, das er nicht einmal seiner Plattenfirma vorzuspielen wagt. Und schließlich wird er dick: Eine Geschichte von grandioser und natürlich elvishafter Tragik.

Aber hier kommt die gute Botschaft: Schön, dass es in einer Welt, in der alle demonstrieren wollen, wie witzig, charmant und geistreich sie sind und permanent Existenznachweise in Form von neue-Platte-neues-Buch-neuer-Film liefern zu müssen meinen, schön dass es da auch Typen wie Axl Rose gibt. Typen, die erst weit unter ihren Möglichkeiten bleiben, ja das Unter-ihren-Möglichkeiten-Bleiben zur Kunstform veredeln und grandiose Schmiere produzieren -- und dann verstummen. Aus. Weg. Fertig. Da kommt nichts mehr.

Ist das nicht allemal besser als das Modell Woody Allen? Jedes Jahr ein neuer Film? Langweilig.

Axl Rose soll hoch leben, stellvertretend für uns alle, die wir nichts gebacken bekommen. Vermutlich sitzt er jetzt gerade wieder im Studio und arbeitet an der Endabmischung.

Tun wir das nicht alle, irgendwie?

© SZ vom 25.6.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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