Das Leben der Anderen:Rodeo der Todesverachtung

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Anders reisen: Ein junger Mann springt aufs Dach eines ICE und reitet mit dem Schnellzug seinem Lebensabend entgegen - "Extreme Trainsurfer".

Christian Kortmann

Unter "Privatisierung der Bahn" stellt Hartmut Mehdorn sich etwas Anderes vor als das, was wir hier sehen: Am Hauptbahnhof Hanau, wo sonst meist Geschäftsreisende mit dunklen Mänteln und Laptop-Taschen zusteigen, treibt sich ein junger Mann in schwarzem Kapuzenpullover, dem Lieblings-Kleidungsstück der Verwegenen, herum. Er fährt zwar auch ICE, aber auf eine Art, wie sie einem selbst nie eingefallen ist, obwohl man schon so oft an deutschen Bahnsteigen gewartet hat. Ja, bei diesem Geschäftsreisenden besteht das Business in der Fahrt selbst: Er springt auf das gläserne Panoramadach einer anfahrenden ICE-Lokomotive, surft auf dem Zug und filmt sich dabei.

Der Surfer ist vermummt, hat die Kapuze auf, ein Tuch im Gesicht. Ein Nahverkehrszug kommt ihm entgegen. Eine Skala zeigt den Unterdruck des Vakuumhaltegriffs an, mit dem er sich ingeniös an der Scheibe festgesaugt hat. "You can only be free... When you have nothing to loose", lautet das pathetische Motto dieses Films, das "lose" (verlieren) mit "loose" (locker) verwechselt.

Über den Hauptdarsteller ist im Netz zu erfahren, dass er aus Deutschland kommt und den Künstlernamen "The Trainrider" trägt. Er sei an Leukämie erkrankt und habe sein letztes Lebensjahr damit verbracht, Züge zu reiten, darunter eben auch ICEs. Kauerte der Gefahrensucher sogar bei der Höchstgeschwindigkeit von 330 km/h auf dem Dach, als wir im Speisewagen bei Montabaur einen Kaffee tranken?

In der Mitte des Films verlieren die Bilder ihre Farbe. "It's better to burn out than to fade away": Solche Klischees kommen einem angesichts der nachrufend schwarzweißen Bilder unweigerlich in den Sinn. Das lebensfrohe "Let's Surf!" des Trainriders ist seine Variante des "live fast", da das "die young" ja schon fest steht.

Der Soundtrack ist notdürftig zusammengepfuscht: Am Anfang Enya-artige Klänge, dann "Knockin' On Heaven's Door". Die Ausdrucksweise dieses Films ist unkompliziert und unelegant. Man merkt, dass ästhetisch wenig geschulte Macher am Werk waren.

Es ist ein Kraftstück aus dem rohen Reservoir der Internetfilme, das wegen seiner Mischung aus Dilettantismus und Existenzialismus fasziniert. Wie bei jeder Art Brut kommt die Wucht direkt aus dem Leben, hier aus der cineastischen Punk-Attitüde: Wir beherrschen die filmischen Mittel zwar nicht richtig, haben aber Wut und etwas zu sagen, also geben wir Vollgas!

Einst tauchte die Filmfigur Pan Tau auf Flugzeugtragflächen auf und verkörperte für Kinder eine fantastische Gegenwelt. Den Trainrider trennt mehr als die Panoramaglasscheibe von den grauen, am Laptop Excel-Tabellen beackernden Geschäftsreisenden im Großraumwaggon: Er lebte ein ganzes Leben auf der anderen Seite, hinter den Spiegeln, dort wo auch ICE-Surfen kein allzu irres Hobby ist. Mit ähnlicher Verachtung wurde dem Tod selten ins Gesicht gelacht.

Selbstverständlich ist es vollkommen unpädagogisch und verantwortungslos, solch lebensgefährlichen Quatsch filmisch zu verklären. Aber - so bunt ist das Leben nun einmal - für den Trainrider waren es die richtigen Taten zur richtigen Zeit, bevor ihm mit nur 21 Jahren die BahnCard 100 für die Ewigkeit überreicht wurde.

Zum Gedenken an den Trainrider haben seine Freunde den Vakuumgriff an den Grabstein geklemmt und diesen Film veröffentlicht: Handelt es sich um eine echte Geschichte, so ist sie unfassbar rührend. Als Fiktion taugt sie zumindest zur Parabel über das richtige Leben: Man muss nicht gleich den ICE reiten, aber vielleicht sollte man ab und zu, ähnlich wie in Richard Linklaters Film "Before Sunrise", einen Zug und einen Termin sausen lassen, um ein Abenteuer zu erleben.

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