Das ist schön:Berlin!

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Das Dok-Fest leistet sich eine symphonische Uraufführung

Von Egbert Tholl

Als Walther Ruttmanns Film "Berlin - Die Sinfonie der Großstadt" 1927 uraufgeführt wurde, schrieb Siegfried Kracauer in der Frankfurter Zeitung: "Hei, wie geschafft wird, wie die Bildstreifen durcheinander rasen, damit nur jeder Provinzler sich an der Raserei berausche, an der Konfusion, den Gegensätzen, den Maschinenteilen, den Autobussen, die immer wieder einmal auf dem Potsdamerplatz sich kreuzen, den gymnastischen Schutzleuten, an dem ganzen blöden Getriebe, das zum Glück nicht Berlin selbst ist, sondern nur eine Summe verworrener Vorstellungen, die Literatengehirne über eine Großstadt ausgebrütet haben."

Sieht man nun Ruttmanns Film zur Eröffnung des Dokumentarfilm-Festivals in München wieder, so stellt man fest, dass er einerseits grauenhaften Unsinn schreibt, andererseits völlig Recht hat. Als Kracauer später sein Buch "Von Caligari zu Hitler" verfasst, kehrt er auch zur Beschäftigung mit Ruttmanns Film zurück, und benennt - nun hat sich der Furor seines Missfallens abgekühlt - klarer, was ihm an "Sinfonie der Großstadt" missfiel und immer noch, nun in den Vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, missfällt. Simpel ausgedrückt: Er wünschte sich eine Haltung des Films, eine klassenkämpferische, eine, die der Modernität der Schnitt- und Montagetechnik Ruttmanns inhaltlich entspräche.

Versucht man, sich im Geiste nach Berlin 1927 zu versetzen, versteht man, was Kracauer meint, nämlich dass Ruttmann Realität formt, Elend zwar abbildet, dieses aber dem Gesamtzusammenhang der Bildkomposition unterwirft, als feiere er die Großstadt. Einem linken Hund wie Kracauer muss das ästhetizistisch, also affirmativ vorkommen sein.

Nur: Wir sehen den Film ja heute. Wir sehen die Momente des Elends, der Armut, der Verzweiflung anders. Wir blicken fasziniert auf die Montage mechanischer Produktionsabläufe mit Realitäten des menschlichen Lebens. Und wir sehen den Sportpalast, in dem niemand nach dem "totalen Krieg" plärrt, sondern Ski gefahren wird, wir sehen jüdische Geschäfte und ein Plakat des Gastspiels der zionistischen "Habima"-Truppe. Wir werden sentimental - und hierin erweist sich die neue Musik von Tobis PM Schneid als richtig. Denn diese romantisiert die Bilder, als schüfe sie ein Argument für Kracauers Kritik von 1927. Das ist eine diachrone Meisterleistung. Und überhaupt: Dass das Dok-Fest eine Musik in Auftrag gibt, dass das fabelhafte Münchener Kammerorchester diese live spielt, das ist eine Feier des Films und wunderschön.

© SZ vom 07.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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