Das Dilemma der Eltern:Erziehung? Keine. Folgen? Unbekannt.

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Die lieben Kleinen dürfen alles und wissen nicht, wo es lang geht. Denn Eltern erziehen ihre Kinder nicht mehr. Darüber klagt inzwischen jeder. Und jeder kennt ein Rezept. Nur die Eltern nicht. Was ist eigentlich los?

Susanne Schneider

Der kranke Papst hin, 5,2 Millionen Arbeitslose her - das Thema, das die Deutschen in diesem kalten Winter wirklich zu beschäftigen schien, heißt Erziehung.

Hat die Flut der Ratgeber, die Berichterstattung über kaum mehr zu bändigende Kinder, die Welle der Erziehungssendungen die Eltern so sensibilisiert, dass sie beim kleinsten Wutanfall ihrer Kinder das Gefühl beschleicht, pädagogische Versager zu sein? (Foto: N/A)

Nehmen wir nur mal den Februar und auch da nur eine zufällige Auswahl der Berichterstattung: Loki Schmidt erklärt in der Bild-Zeitung, dass "Kinder lernen müssen, pünktlich, ordentlich und pflichtbewusst zu sein".

Als Lehrerin habe sie auch mal Ohrfeigen verteilt, "wenn's nötig war"; in der ARD-Sendung Polylux werden ein Regisseur und eine Schriftstellerin vorgestellt, die antiautoritär erzogen wurden und die Schrecken dieser Erziehung in einem Film beziehungsweise Buch verarbeiten; Focus druckt eine Titelgeschichte mit dem Thema: "Verzogen statt erzogen? Kinder brauchen Grenzen"; bei RTL sitzen wie immer, wenn die Super Nanny Katharina überforderten Eltern hilft, um die fünf Millionen Menschen vor dem Fernseher, bei den Supermamas Aicha und Miriam auf RTL II durchschnittlich drei Millionen; auf Vox läuft am 8. Februar die Stern- TV-Reportage Chaos-Kinder, Erziehungsprofis im Einsatz; in der Bunten wird Doris Schröder-Köpf interviewt.

Die Frau des Kanzlers zieht zwei Kinder groß und engagiert sich ehrenamtlich. Wie Millionen anderer Frauen auch. Sie sagt im Wesentlichen, wichtig für Kinder seien Liebe, Traditionen und Rituale und "im Leben kommt es eben nicht immer so, wie man meint". So geht das vier Seiten lang. Hauptsache Erziehung war wieder mal das Thema.

Sind die Titel zweier Bestseller Wahrheit geworden und wir erleben gerade den "Erziehungsnotstand" oder gar die "Erziehungskatastrophe"?

Haben alle Eltern das Erziehen verlernt?

Ist es richtig, dass das Privateste, was sich innerhalb der Familien abspielt, zum öffentlichen Dauerthema gemacht wird, weil die Gesellschaft sonst in einer pädagogischen Katastrophe abzusaufen droht?

Oder ist alles vielleicht nur Hysterie, mit der sich Quoten und Auflagen im Handumdrehen steigern lassen ?

Fest steht: Die Verunsicherung darüber, wie man ein Kind erzieht, wächst.

Die Deutschen gaben im vergangenen Jahr 750 Millionen Euro für Erziehungsratgeber und Zeitschriften wie Eltern for family, Familie & Co aus.

Bei fast allen Erziehungsberatungsstellen und Sorgentelefonen für Eltern hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre die Zahl der Ratsuchenden verdoppelt. Nicht ganz so fest steht, wo Ursache und wo Wirkung liegen. Hat die Flut der Ratgeber, die Berichterstattung über kaum mehr zu bändigende Kinder, die Welle der Erziehungssendungen die Eltern so sensibilisiert, dass sie beim kleinsten Wutanfall ihrer Kinder das Gefühl beschleicht, pädagogische Versager zu sein?

Dazu passt die Feststellung des Hamburger Erziehungswissenschaftlers Peter Struck, dass noch vor zwanzig Jahren Mütter beim Elterntelefon anriefen, wenn ihr Kind in der Pubertät Schwierigkeiten machte: "Inzwischen rufen sie bereits an, wenn es drei Jahre alt ist. Eltern haben heute viel früher Angst, dass ihr Kind nicht oben ankommt in der Gesellschaft."

Aber die überbordende Berichterstattung erklärt eben nur einen Teil der Verunsicherung.

Die Familientherapeutin Mechthild Skell von der Familienberatungsstelle des Albert-Schweitzer-Kinderdorfs in Hanau zum Beispiel erlebt in ihren Beratungsgesprächen, dass die Probleme der Eltern sehr wohl zunehmen: weil die Ergebnisse der PISA-Studien Eltern wie Kinder unter Druck setzen; weil sich die Familien immer schneller ändern - Eltern trennen sich, das Kind bleibt bei der Mutter, neuer Freund zieht ein und bald wieder aus; weil Eltern wegen Geldproblemen, Arbeitslosigkeit oder Scheidung zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt sind und keine Zeit mehr für die Kinder bleibt; weil Eltern nicht mehr wissen, welche Werte sie ihren Kindern vermitteln sollen, die auch in zwanzig Jahren noch wichtig sind.

"Wenn Eltern unsicher sind, überträgt sich das natürlich auf das Kind", sagt Mechthild Skell.

Es gibt Zahlen, die einen schaudern lassen und der Befürchtung des Bonner Neuropädiaters Hans Schlack Nahrung geben, "das allgemeine erzieherische Unvermögen" werde zur neuen Volkskrankheit: Heute sind knapp 35 Prozent der Kinder übergewichtig, darunter fast zehn Prozent fettsüchtige, doppelt so viele wie Ende der Achtziger; bereits Zweijährige sehen durchschnittlich 58 Minuten fern am Tag; beinahe jedes dritte Kind landet heute wegen Sprach- oder Entwicklungsstörungen beim Therapeuten.

Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck spricht darüber hinaus von 15 Prozent aller Kinder, die von ihren Eltern als störend empfunden werden, weil beispielsweise Mutter und Vater Beziehungsprobleme haben.

Am anderen Ende des Spektrums stehen 15 Prozent der Kinder, deren Eltern so leistungsorientiert sind, dass sie die komplette Kindheit verplanen: "Englisch lernen mit drei, Geige und Ballett mit fünf, ins Sportcamp mit elf, Sprachferien in England mit 14, Austauschjahr in den USA mit 16.

Das sind jene, die die Erwartungen ihrer Eltern niemals erfüllen können und den größten Frust erleben", sagt Peter Struck. Und die Zahl der so genannten hilflos erziehenden Eltern wächst obendrein: jene, die ihr Kind zwar lieben, ihnen aber keine Grenzen setzen und auch sonst nicht recht wissen, wie man das macht mit der Erziehung.

An welcher Stelle des Weges haben wir eigentlich das Erziehen verlernt? Wann ist uns der selbstverständliche Umgang mit unseren Kindern abhanden gekommen und ersetzt worden durch Überfürsorge oder Gleichgültigkeit, Überforderung und schlechtes Gewissen?

Was ist passiert, dass die Hälfte aller Eltern ihre kleinen Kinder für verhaltensgestört hält, wie eine Studie des Familienministeriums im vergangenen Jahr zeigte?

Bis in die fünfziger, sechziger Jahre hinein, war bei Gott nicht alles besser, aber vieles einfacher: Kinder hatten zu gehorchen, sollten rücksichtsvoll und höflich sein, mussten essen, was auf den Tisch kam, ob es schmeckte oder nicht. Pflichten im Haushalt mussten Kinder früh übernehmen, wer nicht spurte, spürte die Konsequenzen - und überhaupt hat man relativ wenig Aufhebens um Kinder gemacht.

So in etwa hielten es alle, der Erziehungsstil war autoritär und das galt nicht als Schimpfwort.

Heute hält es jeder anders, verbindliche Richtlinien gibt es nicht mehr. Nur in wenigen Punkten herrscht relative Einigkeit: Antiautoritär wie die 68er-Generation möchte man nicht mehr sein, lieber einen demokratischen Erziehungsstil pflegen, Werte dürfen nicht mehr verordnet werden, sondern bedürfen der Zustimmung des Kindes.

Aber selbst wenn Eltern heute beschließen, ihre Kinder so zu erziehen, wie sie selbst erzogen worden sind, merken sie, es funktioniert nicht mehr - die Gesellschaft ändert sich schneller als die Erziehungsstile.

Zwei Beispiele.

Erstens: Der Erziehungswissenschaftler Peter Struck sagt: "Bis vor zwanzig Jahren galt, dass sich Lehrer alle sieben Jahre auf eine neue Schülergeneration einstellen mussten, auf neuen Musikgeschmack, veränderte Jugendsprache, andere Haarlängen und Weltanschauungen, neue technische Geräte, die Einzug ins Kinderzimmer gehalten haben und die Erwachsene nicht begreifen.

Heute haben es Lehrer schon nach drei Jahren mit einer komplett verwandelten Schülergeneration zu tun." Die Folge: Nicht nur Lehrer, auch Eltern verstehen ihre Kinder nicht mehr.

Zweitens: Der Arzt und Autor Till Bastian schreibt: Wo es früher hieß "benimm dich", heißt es heute "beeil dich".

Mit der Aufforderung, sich zu benehmen, wurde an einen Wert appelliert, die Aufforderung, sich zu beeilen dagegen ist sinnentleert und besagt nur, dass auch Kinder der ständigen Beschleunigung Rechnung tragen müssen.

Alles muss schnell gehen. Erziehung aber heißt langfristig zu handeln und zu denken; nur, worauf es langfristig ankommt, wird zunehmend unklarer.

Woran sich also orientieren in einer Zeit, in der es nicht mehr ein Wertesystem gibt, sondern Dutzende, die sich auch noch ineinander verschränken?

Soll mein Kind ausgerüstet sein für die Ellenbogengesellschaft, in der Geld und Erfolg alles und Rücksicht nichts bedeutet? Wie mache ich es fit fürs Leben, wenn ich nicht weiß, ob in zwanzig Jahren der flexible, kreative Mensch noch Arbeit findet oder der solide, wertkonservative?

Waldorfschule oder städtische Realschule? Macht eine Mutter dann alles richtig oder alles falsch, wenn sie des Kindes wegen ihren Beruf aufgibt oder Teilzeit oder Vollzeit arbeitet?

Ergebnis: Alle sind verunsichert.

Weil keiner mehr da ist, keine Institution, keine Religion, keine moralische Instanz, die einem eine Schneise schlüge durch den Dschungel, der Erziehung heißt, liegt alle Verantwortung allein bei den Eltern. Und die jetzige Elterngeneration ist ihrerseits häufig schon von Eltern erzogen worden, die ohne klare Richtlinien aufwuchs.

Aus Angst, alles falsch zu machen bei der Erziehung, machen viele Eltern einfach gar nichts mehr.

Die Realität, die in Sendungen wie Die Super Nanny oder Die Supermamas gezeigt wird, ist sicher verzerrt, die Kernprobleme der Hilfe suchenden Familien aber werden von Erziehungswissenschaftlern und Familientherapeuten bestätigt: In vielen Familien gibt es keinen geregelten Tagesablauf, die meisten haben nicht mal einen Esstisch, essen nicht zusammen und wenn, dann am Couchtisch, während der Fernseher läuft.

"Die Beziehungslosigkeit unter den Famili-enmitgliedern nimmt zu", sagt Mechthild Skell, die Familientherapeutin, "dem PC und dem Fernseher wird mehr Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet als den Familienmitgliedern."

Und Regelsysteme würden nicht mehr aufgestellt oder wenn, dann nicht beachtet, Konsequenzen allenfalls angedroht, kaum jemals ausgeführt.

"Konsequenzen auch wirklich zu ziehen setzt voraus, Eltern akzeptieren, dass es eine Hierarchie gibt zwischen ihnen und ihren Kindern", sagt Mechthild Skell, "andernfalls drehen sich die Verhältnisse um: Das Kind wird groß, die Eltern klein.

Heute bitten Eltern, dass die Kinder sie verstehen."

Hier die Kinder, da die Erwachsenen, diese Aufteilung zählt als Auslaufmodell: Beide treffen sich ausgerechnet in der problematischten Phase der Pubertät.

"Schon kleine Kinder stehen unter ungeheurem Druck, ganz früh Trends in der Jugendkultur aufzuspüren und Nischen zu finden, in denen sie sich von den Erwachsenen abgrenzen können", sagt der Erziehungswissenschaftler Peter Struck, "und das müssen sie auch, denn Eltern wollen selbst so lang wie möglich pubertär, also jung und ohne Verantwortung sein."

Die Verantwortung schieben sie an die Kinder ab: Sechsjährige sollen selbst entscheiden, ob sie dieses oder erst nächstes Jahr eingeschult werden wollen, Siebenjährige, ob sie nach der Trennung lieber beim Vater oder bei der Mutter bleiben möchten.

Wenn das Kind die Entscheidungen trifft, auch jene, für die es viel zu klein ist, heißt das, dass Eltern sich nicht schuldig machen müssen.

An nichts schuld sein: "Viele Eltern sind sogar erleichtert, wenn man bei ihrem Kind eine Störung diagnostiziert, vielleicht sogar eine, gegen die es Tabletten gibt.

Es ist ihnen lieber, als zu hören, das Kind sei eben bockig und frech oder brauche mehr Aufmerksamkeit von ihnen", stellt die Familientherapeutin Mechthild Skell fest.

"An einer Krankheit aber sind sie nicht schuld, die hat man einfach. Krankheiten oder Störungen zu diagnostizieren geschieht heute schneller denn je. Weil viele Eltern ständig psychologisieren, sich bei der ersten schlechten Note ihres Kindes fragen: Ist das noch normal oder braucht es Hilfe? Weil es vor zwanzig Jahren noch niemanden gab, der etwas vom Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder von Dyskalkulie gehört hätte, vor allem aber, weil der Markt der Therapeuten unendlich ins Kraut geschossen ist - und die Berichterstattung auch.

Keine Frage, die sensorischen Integrationstherapeuten, die Logopäden, die Mal- und Spieltherapeuten, die Kinder- und Jugendpsychologen, die Erlebnispädagogen, die Festhalte-, Delfin-, Reit-, Ergo- und Physiotherapeuten und auch die tiergestützten Therapeuten helfen vielen Kindern.

Andererseits findet diese Berufsgruppe eben ihr Auskommen nur dann, wenn im Zweifel eher eine Teilleistungsstörung oder Entwicklungsverzögerung diagnostiziert wird als eine Phase, die vorübergeht.

Kurz vor Schluss die schwierigste aller Fragen: Wie sollen es Eltern denn nun richtig machen? Darauf umfassend zu antworten würde den Rahmen sprengen. Aber vielleicht hilft es, sich ein paar Punkte vor Augen zu führen, die Erziehungswissenschaftler als die wichtigsten bezeichnen:

- Das Kind nicht mit Erwartungen überfrachten, besonders Eltern von Einzelkindern laufen da Gefahr.

- Wenn Eltern zwei verschiedene Erziehungsstile pflegen, kommt das für das Kind einer Katastrophe gleich.

- Einen guten Mittelweg finden, um die Grundbedürfnisse des Kindes zu befriedigen: Liebe, Zeit, Ansprache, Bewegung, ein stimmiges Weltbild.

- Jede Entwicklungsstufe braucht einen anderen Entwicklungsstil: Bis Kinder drei Jahre alt sind, hat es keinen Sinn, ihnen jede Entscheidung zu erklären, im Gegenteil.

- Jeden Schritt zu begründen, sie von morgens bis abends zuzutexten, führt dazu, " dass das Kind sich dumm fühlt", sagt der dänische Familientherapeut Jesper Juul.

- Zwischen vier und 14 Jahren bedarf es des "autoritativen Erziehungsstils", wie Fachleute das nennen. Alles, was man vom Kind fordert, muss man begründen; die Einhaltung von vereinbarten Regeln muss kontrolliert werden, bei Fehlverhalten wird ohne Härte eingeschritten; man muss dem Kind ein positives Vorbild sein. "Aber gerade mit diesem entwicklungsspezifischen Führungsstil haben viele Eltern Probleme", meint Peter Struck.

- Der Ausklang sollte versöhnlich sein, doch dazu gibt es nicht viel Anlass.

Mechthild Skell ist überzeugt, dass die Probleme noch größer werden: Die Bindungslosigkeit nimmt zu, ebenso Armut und Arbeitslosigkeit. Der Druck, der auf Eltern und Kindern lastet,hat seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Und doch hat es sein Gutes, dass diese Geschichte geschrieben wurde.

Denn Peter Struck sagt: "Wann immer Eltern sich Gedanken machen über Erziehung, darüber reden, Fernsehsendungen zu diesem Thema ansehen, Ratgeber oder Zeitungsartikel lesen, ist schon etwas gewonnen. Wichtig ist vor allem, dass sie sich mit diesem Thema beschäftigen."

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© SZ-Magazin v. 24.03.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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