Christian Petzold als Theaterregisseur:Distanz der Vampire

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Christian Petzold inszeniert Schnitzlers "Einsamen Weg" als Gespensterreigen in Berlin.

Christopher Schmidt

Unter den deutschen Filmemachern hat der Mercedes-Fahrer Christian Petzold die Bedeutung des Autos fürs Kino am klarsten erkannt. Als Wunschmaschine mag es ausgedient haben, aber für einen, der von der Gegenwart erzählen will, bietet die Windschutzscheibe des Autos den richtigen Blickwinkel. Gleichen doch in Petzolds Kapitalismus-Studien die deutschen Landschaften einem Transitraum, einem gespenstischen Unort. Wo statt Heimat Infrastruktur ist, wird jeder Halt zum Boxenstopp; ein Serviceteam in weißen Overalls erledigt Reifenwechsel und Druckbetankung. Leben heißt eine erzwungene Pause, bevor man sich wieder zurückfädelt in den Kreislauf der Waren und Dienstleistungen - und jeder von uns ist nur Zulieferer.

Christian Petzold bei den 65. Filmfestspielen in Venedig. (Foto: Foto: dpa)

Und doch stellt die Autofahrt selbst eine solche Zwangsunterbrechung dar, tote Zeit. Autofahrten seien für ihn immer mit der Erinnerung an ein Nachbeben verbunden, hat Christian Petzold einmal gesagt, dem Ärger über etwas, das vorher war, aber erst im Auto artikuliert wird und vielleicht selbst zu einem Streit führt. So werde die Fahrgastzelle zu einer Druckkammer, einem Zwischenreich, einer Zeit-Blase. Man könnte auch sagen: zu einer Theaterbühne. Die abgeschlossene, kulissenhafte Atmosphäre im Auto hat Petzold zufolge etwas Theatralisches; kleine Kammerspiele werden hier aufgeführt, mal Ehedrama und mal Familienfarce.

Wenn man so will, hat Petzold jetzt einen ganzen Film im Auto gedreht, indem er zum ersten Mal ein Theaterstück inszeniert. Hier, am Deutschen Theater in Berlin wurde es 1904 uraufgeführt: Arthur Schnitzlers "Der einsame Weg", ein düsteres Drama über die Herbststürme verwehter Männlichkeit. Drei Künstlerfreunde mittleren Alters stochern noch einmal im welken Laub ihrer Jugendsünden und rascheln symbolschwer mit den Vanitas-Litaneien kakanischer Todestrunkenheit.

Nun wissen wir nicht, wie Schnitzler zum Auto stand. Er war nämlich nicht nur Arzt und Schriftsteller, sondern auch überzeugter Fahrradfahrer. Früh hatte er im innerstädtischen Wien die praktischen Vorzüge eines Nahverkehrsmittels erkannt, das ihm die nötige Mobilität verschaffte, um zwischen Praxisbetrieb und Literaturproduktion seine Kontrollrunden zu drehen. Täglich fuhr er seine diversen Geliebten ab, machte jeder eine Eifersuchtsvisite und belohnte sich auf dem Heimweg mit einem "süßen Mädel" von der Straße. Arthur Schnitzler war ein hypochondrischer Erotomane und ein kannibalischer Liebhaber: "Bin wieder erotisch wie krank. Möchte alle haben", "das Liebste wäre mir ein Harem", schrieb er in sein Tagebuch, in dem penibel Strichliste über die Häufigkeit der Sexualkontakte geführt wurde. In keinem anderen Stück hat Schnitzler so bitter mit seinem bewegten Leben als Mann abgerechnet wie in "Der einsame Weg". "Ich verurteile mich gewissermaßen zum Tode - um mich außerhalb des Stückes um so sicherer begnadigen zu können", fasste er jene symbolische Selbstbestrafung, die ihn "viel Qual, ja Thränen" gekostet" hatte, zusammen und trat doch schon wieder beutegierig in die Pedale.

"Egoisten" sollte das Stück ursprünglich heißen, das insofern auch die grenzenlose Egomanie des Verfassers beweist, als Schnitzler hier gleich drei Zerrbilder seiner selbst entwirft: Da ist der Akademieprofessor Wegrath, ein Beamter der Kunst, der nicht nur sein Talent, sondern auch sein Herz in den kleinen Rahmen einer bürgerlichen Existenz eingefasst und eine Frau geheiratet hat, die nicht von ihm, sondern von seinem besten Freund schwanger ist. Als Gabriele stirbt, ohne das Familiengeheimnis mit ins Grab zu nehmen, wankt das Fundament der Lebenslüge, in die alle Figuren des Stücks verstrickt sind.

Versunkene Seelenlandschaft

Wegraths Familiensinn ist dabei nur eine Spielart von emotionalem Geiz; als seine Tochter Johanna, die sich in den sterbenskranken Dichter Sala verliebt hat, ins Wasser geht, um sich mit dem Geliebten im Tod zu vereinen, trauert er nicht um sie, sondern um sich selbst. Und er fühlt sich gebauchpinselt, als sein Sohn Felix sich für ihn und nicht für seinen leiblichen Vater entscheidet, den Maler Julian Fichtner, der um Felix' Zuneigung wirbt. Wie Sala ist auch Fichtner ein verlebter Lebemann, der für seine Bindungsangst mit Entfremdung und Einsamkeit büßt.

Jetzt, im Herbst ihres Lebens, sollen die Kinder sie erlösen. Wie Vampire schlagen die Alten ihre Zähne in die jungen Leute, um sie auszusaugen: Sala, der morbide Salonzyniker, der Johanna einen Heiratsantrag macht, und Fichtner, der müde Wüstling, der nach allen Seiten in eine Leere greift, vor der ihm graut. "Kein Gespenst überfällt uns in vielfältigerer Verkleidung als die Einsamkeit, und eine ihrer undurchschaubarsten Masken heißt Liebe", lautet ein Aphorismus Arthur Schnitzlers.

Mit ihren langen Mänteln und Gehröcken sehen sie ein wenig wie Fledermäuse aus, die Männer in Christian Petzolds Inszenierung, lauter Blutsauger, die das Leben auf Entzug gesetzt hat. Petzold lässt sie auf Henrik Ahrs Bühne aus der Tiefe eines erleuchteten Trichters auftreten wie aus einem Tunnel. Am Ende dieses Tunnels sieht man das nächtliche Urban-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg, und aus dem Programmheft geht der Zusammenhang hervor.

Die Umrisse dieser Betonformation gleichen verblüffend der Toteninsel auf Arnold Böcklins gleichnamigem Gemälde. Christian Petzold setzt seine Schauspieler schmerzend grellem Licht aus, als wollte er ihre Röntgenbilder vor einen Leuchtschirm hängen. Im Studium hat der Regisseur als Beleuchter an der Berliner Schaubühne gejobbt; auch Filmbilder bestehen ja nur aus Licht. Minutiöse Lichtregie ist denn auch das einzige bildnerische Gestaltungsmittel im white cube der leeren Bühne, das Licht mit seinem feinen Temperaturschwankungen umgibt die Figuren wie eine Nährflüssigkeit.

Petzold nutzt die Tiefe des Raumes, um die Gruppen zu staffeln, spielt mit Vorder- und Hintergrund, und mit jedem Gang verändern sich die Kraftfelder. Die Choreographie hat die Genauigkeit eines Soziogramms. Äußerst puristisch ist diese Inszenierung, ganz beim Schauspieler und beim gesprochenen Wort. Zusammen mit seinem Dramaturgen Roland Koberg hat Petzold eine Strichfassung erarbeitet, die das Stück von allen Naturalismen befreit und in der sich durch Umstellungen die Handlung zwangsläufiger entfaltet. Verlangsamt werden die Sätze gesprochen, gedehnte Pausen erzeugen den Pulsschlag des Abends.

Jeder scheint hier in sich selbst gefangen und wird nur laut wie in einem Lagerkoller, um gegen die eigene Panzerung zu trommeln. Einmal geht Nina Hoss, die ihre Johanna nicht als wehe Schwärmerin spielt, sondern als Glückssucherin von scheuer Wildheit, hinüber zu Sala. Sie durchmisst dabei den ganzen Raum, setzt Fuß vor Fuß, als balancierte sie auf einem Seil über einen Abgrund. Dann setzt sie sich zu Ulrich Matthes vorn an die Rampe und legt ihren Kopf auf seine Schulter.

Es ist der einzige Moment von Nähe und Wärme an einem Abend, der von der Verhaltenslehre der Kälte bestimmt wird. Der jovialen Patriarchen-Kälte von Jörg Gudzuhns Wegrath, der schnoddrigen Schlawiner-Kälte von Ernst Stötzners Fichtner, der noblen Fingerhandschuh-Kälte von Ulrich Matthes' Sala, für den jeder andere nur ein Accessoire seiner Eitelkeit ist. Und auch der burschikosen Hysterikerinnen-Kälte von Almut Zilchers Irene, deren Zusammenbrüche immer auf Beifall aus sind. Am Schluss hat auch sie ein Opfer gefunden. Felix soll ihr den Sohn ersetzen, den sie nie hatte. Bei Alexander Khuon wirkt er zunehmend geschwächt vom Virus der Lüge und lässt sich willenlos von Irene umarmen. Dann wiegen sie sich im Tanz, und jede Drehung wickelt den klebrigen Spinnen-Faden enger um Felix .

Es ist überraschend, wie konsequent Petzold bei seinem Ausfallschritt auf die Bühne auf deren genuine Stärken setzt: das Wort und den Atem der Schauspieler. Gelungen ist ihm die kühle Erkundung einer versunkenen Seelenlandschaft - so sicher, als habe ihn ein Navigationssystem durch dieses fremde Land gelotst.

© SZ vom 16.3.2009/irup - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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