Cannes 2005:Das Schweigen der Lemminge

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Man könnte es auch Spülbeckenkino nennen: Die Filmfestspiele in Cannes starten mit suizidgefährdeten Kleintieren, die ihr Unglück in französischen Waschbecken suchen.

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Tradition gilt in Cannes mehr als bei jedem anderen Filmfestival, das ist so in allen Bereichen.

Charlotte Gainsbourg und Laurent Lucas spielen die Hauptrollen in "Lemming", Benedicte und Alain, ein junges Ehepaar, das einen Lemming in seinem Spülbecken vorfindet. (Foto: Foto: cannes2005)

Man trennt sich dort ungern von liebgewonnenen Gewohnheiten, selbst der Generationswechsel in der Leitung, die Übergabe von Gilles Jacob -- immer noch Präsident -- an den Direktor Thierry Frémaux war ein jahrelanger, schleichender Prozess. Der ist inzwischen zwar abgeschlossen, aber Frémaux ist der Tradition treu geblieben, auf große Regisseure zu setzen.

Wenn heute abend die 58. Filmfestspiele an der Croisette beginnen, waltet wieder mal das Stammgäste-Prinzip: Im Wettbewerb sind mehr alte Bekannte anzutreffen als Neuzugänge. Lars von Trier ist mit "Manderlay" dabei, Michael Haneke, der für "Die Pianistin" 2001 den großen Preis bekommen hat, mit "Caché", Amos Gitai, Gus van Sant, David Cronenberg, Atom Egoyan und Wim Wenders mit "Don't come knockin'" -- letzterer hat, seit dem Preis der Kritik für "Im Lauf der Zeit" 1976, fast jeden Preise schon einmal bekommen -- inklusive der Goldenen Palme für "Paris, Texas".

Dagegen ist Dominik Moll, der Regisseur des Eröffnungsfilms "Lemming", relativ neu in Cannes, aber selbst er ist schon zum zweiten Mal im Wettbewerb dabei.

Charlotte Gainsbourg und Laurent Lucas spielen die Hauptrollen in "Lemming", Benedicte und Alain, ein junges Ehepaar, das einen Lemming in seinem Spülbecken vorfindet; was seltsam genug ist, weil es die suizidgefährdeten Tiere in Frankreich eigentlich nicht gibt.

Er wollte, sagt Moll, ausgehend von einer ganz banalen Situation, Abflussverstopfung in diesem Fall, die Geschichte in immer gefährlichere Bahnen lenken, bis ins Fantastische gar. Sein Held glaubt, so Moll, "Kontrolle sei eine Garantie fürs Glück, und er verliert nach und nach all seine Anhaltspunkte".

Molls Cannes-Wettbewerbsbeitrag von 2000, "Harry meint es gut mit dir", eine Art Familienthriller, folgte einem ähnlichen Prinzip: Der Schrecken entwickelte sich aus einer Alltagssituation, ein freundlicher, übertrieben hilfsbereiteter Hausgast taucht auf in der ländlichen Idylle, und erst nach und nach wird den Gastgebern klar, dass sich ein Mörder in ihr Nest geschlichen hat.

Eine neue Nebenreihe widmet sich dieses Jahr erstmals den Kinos der Welt, aber der Wettbewerb bleibt, wie er ist. Moll ist in Deutschland geboren, und damit ist "Lemming" fast ebenso ein deutscher Wettbewerbsbeitrag wie Wenders' "Don't come knockin'" mit Jessica Lange und Sam Shepard, der das Drehbuch mit Wenders gemeinsam geschrieben hat. Wer im letzten Jahr, als Hans Weingartner mit "Die fetten Jahre sind vorbei" um die Palme konkurrierte, gedacht hat, Thierry Frémaux würde jedes Jahr junge deutsche Regisseure an die Croisette holen, der hat sein Traditionsbewusstsein eben unterschätzt.

© SZ vom 11.5.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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