Büchnerpreis für Josef Winkler:Es gibt kein Entkommen

Lesezeit: 4 min

Die Vergabe des höchsten deutschen Literaturpreises an Josef Winkler hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl: Der Kärntner blieb stets in der Enge seiner Ursprünge gefangen.

Hellmut Böttiger

Schon nach wenigen Sätzen wird jedem Leser klar, dass es sich bei Josef Winkler um einen österreichischen Autor handeln muss. Und es geht sogar um eine Steigerung von Österreich: um Kärnten.

Der Tod, dieses alte Wappentier des österreichischen Selbstgefühls, steht im Zentrum aller Texte Josef Winklers, der 1953 in Kärnten geboren wurde.

Er hat im Lauf der Jahre ständig nach neuen Variationen dieses Generalthemas gesucht, und es ist erstaunlich, wie viele Arabesken er seiner großen Obsession immer wieder hinzufügen konnte.

Wenn also Österreich in diesem Jahr beim Büchner-Preis an der Reihe gewesen sein sollte - turnusmäßig, aber unregelmäßig sollen, so ein ungeschriebenes Gesetz, österreichische und schweizerische Autoren mitsamt den deutschen auf diesen Olymp erhoben werden, dann kam man an Josef Winkler kaum vorbei. Denn dieser Autor ist Österreich im reinsten Konzentrat.

Bestaunen der Toten im Sarg

Es gibt einige Urszenen, die Josef Winklers literarischen Kosmos ausmachen. Seine erste Erinnerung ist die, wie er 1956, als Dreijähriger, seine Großmutter aufgebahrt sah, von Immergrün umgeben - von diesem Punkt an, sagte er einmal, begann "die Bilderflut".

Er wurde Ministrant, ging mit dem Pfarrer ins Totenhaus und "bestaunte" die Toten im offenen Sarg. Diese Kindheitserinnerungen fließen in Winklers Texten zusehends mit einem Lebensgefühl zusammen, das von der Enge im Kärtner Heimatdorf, von patriarchalischen, bäuerlichen Familiensituationen geprägt ist.

In seinem bisher letzten Buch "Roppongi" (2007) wird der Tod des alles beherrschenden Vaters beschrieben, der 99 Jahre alt wurde. Der Terror, das Faschistoid-Provinzielle des Vaters wird mit Motivketten aus der Kindheit verknüpft.

Die 16 Stufen, die zum Sarg hinaufführen und in rhythmischen Schüben immer wieder auftauchen, führen assoziativ zu den vielen anderen aufgebahrten Särgen in der Familie. Als den Erzähler die Todesnachricht erreicht, hält er sich gerade in Japan auf, und es ist ihm nicht möglich, rechtzeitig zur Beerdigung zu erscheinen. Da trifft ihn eine frühere Drohung des Vaters mit voller Wucht: "Wenn ich einmal nicht mehr bin, dann möchte ich nicht, dass du zu meinem Begräbnis kommst!"

Katholizismus, Tod, bäuerliche Provinz

Die ersten drei Bücher Winklers sprechen fast unmittelbar autobiografisch von diesem engen, brutalen Lebensraum, der zwangsläufig auch zu einem Raum des Todes wird: "Menschenkind" (1979), "Der Ackermann aus Kärnten" (1980) und "Muttersprache" (1982). Sie wurden später zur Trilogie "Das wilde Kärnten" zusammengefasst.

Der Katholizismus, der Tod, die bäuerliche Provinz blieben als Grundtremolo der Existenz immer erhalten. Eine Schlüsselsituation, die in sämtlichen Büchern Winklers auftaucht, birgt alles in sich: Ende September 1976 erhängen sich der siebzehnjährige Mechaniker Jakob P. und sein Freund, der gleichaltrige Maurerlehrling Robert L., im Pfarrhausstadel von Winklers Heimatdorf Kamering mit einem Kälberstrick.

So wie für den Dreijährigen die "Bilderflut" mit der aufgebahrten Großmutter begann, so beginnt mit diesem Ereignis das Schreiben des Schriftstellers Winkler.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wo sich Winklers Suggestionen am deutlichsten zeigen.

Der Doppelselbstmord setzte die Wörterflut dieses Autors in Gang. In "Muttersprache", dem dritten Roman, in dem der Erzähler nach Italien ausbüchst, heißt es dazu: "Er fährt wieder nach Venedig und beginnt im Café Florian, ständig den Tod der beiden Buben vor Augen, mit den ersten Notizen zu seinem ersten Roman, der mit einem Epitaph für diese beiden Freunde beginnt."

Josef Winkler hat seine Bücher mehr und mehr als ein selbstreferenzielles System angelegt. Dazu holte er immer weiter aus. 1992 feierte er seinen Hausheiligen Jean Genet und umkreiste so die Verbindungslinien zwischen Literatur, Rausch und Tod. In "Domra.

Begräbnisritual nicht vom Alltag abgekoppelt

Am Ufer des Ganges" (1996) wird Indien zum Schauplatz der Obsessionen, im Blick auf die Einäscherungsrituale in Benares am Ganges: hier zeigt sich das Barocke, Ausschweifende der Satzperioden Winklers in voller Pracht, werden Tod und Leben als untrennbare Einheit gefeiert.

Das Begräbnisritual ist nicht vom Alltag abgekoppelt wie in Mitteleuropa: neben den "lichterloh brennenden Schilfbündeln", werden die Toten auf Bambusleitern von den Gepäckträgern der Autobusse gehoben und betelkauende Kinder spielen mit verschorften Ziegen.

In "Natura morta" (2001), der "römischen Novelle" führte Winkler seine glühenden Satzverschränkungen auf ihren bisherigen Höhepunkt. Wie das allegorische Stillleben eines flämischen Malers aus dem 17. Jahrhundert kommt eine Marktszene in Rom daher: Da gibt es die dicke Feigenverkäuferin, ihren glatzköpfigen Mann mit seinem "Mafia. Made in Italy"-T-Shirt, die vielfarbigen Früchte und Gemüse, die Fischköpfe, Fischleiber und zerteilten Tiere, das Menschengewoge, die Blicke, die Rufe.

Selbst der Tod erschöpft sich

Und dazwischen den "Piccoletto" mit den langen Wimpern, ein Symbol für ins Italienische gerichtete Sehnsüchte. Dass dieser Jüngling jäh von einem Wagen der Feuerwehr überfahren wird, lässt die Szene plötzlich kippen: "Natura morta" ist Verschränkung von Kunst und Leben, inszeniert es Sinnbild.

Hier zeigen sich die Suggestionen Winklers am deutlichsten. Es gelingen ihm rhythmische Suaden, durch Wiederholungen und Verknüpfungen einzelner Motive akzentuiert. Der Tod kehrt in immer neuen Verwandlungen wieder. Aber selbst der Tod erschöpft sich nach einigen Büchern. Und das Monothematische fällt bei Winkler mehr auf als bei anderen Autoren, die ein alles bestimmendes Grundmotiv variieren.

Denn Winklers Kosmos ist bei allen Farb- und Klangeffekten sehr begrenzt. Ein Fall wie der Inzest-Skandal von Amstetten mag zeigen, dass Winklers Texte so aktuell sind wie die Zustände, die sie beschreiben. Dass er jetzt mit dem höchsten deutschen Literaturpreis ausgezeichnet werden, hinterlässt jedoch auch ein zwiespältiges Gefühl.

Moderne Gegenwart nur im Detail

Sein Werk hat in manchem Detail viel Außenwelt und moderne Gegenwart in sich aufgenommen, aber es ist der Enge seiner Ursprünge nicht recht entkommen.

Gewiss passt er gerade mit diesem Ursprungsmotiv zum Rebellischen, Außenseiterischen Georg Büchners: Josef Winkler ist der literarische Rebell in der Provinz. Aber längst ist seinen literarischen Mitteln etwas Behagliches, zufrieden in sich Ruhendes zugewachsen, im Schutz kanonisierter Autoren von Ludwig Anzengruber bis Thomas Bernhard. So verdient diese Wahl wie das prämierte Werk Respekt vor seinem Glutkern, aber etwas spürbar Zeitgenössisches kürte man hier eher nicht.

© SZ vom 18.06.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: