Buchmesse:Die Schlüsselübergabe

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Doris Schröder-Köpf eröffnet auf der Buchmesse die Kampagne "Deutschland liest vor"

Die Leselust der Jugendlichen sinkt, konnte man auf diesen Seiten vor zwei Tagen erfahren (SZ vom 7. Oktober). In einer neuesten Studie gaben nur noch 47 Prozent der 14- bis 19-Jährigen an, gern oder besonders gern Bücher zu lesen. Acht Jahre zuvor waren es immerhin noch 60 Prozent. Die Ergebnisse der PISA-Studie haben uns vor zwei Jahren mit ihren verheerenden Zahlen zur Leseschwäche und Leseunlust deutscher Schüler erschüttert. 23 Prozent aller 15-Jährigen lesen nur auf niedrigem Niveau oder sogar darunter.

Lesen freilich ist kein vernachlässigbarer Luxus, sondern die Schlüsselqualifikation, "Türöffner" für alle weitere Bildung nennt es Jürgen Baumert vom Max Planck Institut für Bildungsforschung. Die frühe Begegnung mit Büchern zahlt sich nicht nur unmittelbar im Spracherwerb aus, sondern zeigt langfristig Wirkung auf das Erlernen des Lesens wie insbesondere auch auf das mathematische und naturwissenschaftliche Denken. Ein Zusammenhang, den auch PISA eindrücklich diagnostizierte.

Aus unterschiedlichen Lesestudien sind diese Zusammenhänge seit Jahren bekannt. Man muss dafür keine neuen Kommissionen installieren. Um die Kinder vor allem bildungsferner Schichten, ob mit deutschem oder ausländischem Familienhintergrund, früh zum Lesen zu bringen, ihnen den Türöffner für die Welt der Sprache und der Phantasie in die Hand zu geben, brauchen sie zu allererst Menschen, die mit ihnen reden, singen, reimen und ihnen vor allem vorlesen. Vorlesen war Jahrhunderte lang die gängigste Form der Unterhaltung für Kinder. Auf dem Schoße oder zu Füßen der Mütter und Großmütter saßen sie und hörten Märchen, Sagen, die biblischen Geschichten. Aber auch in Kindergarten und Schule wurde einst endlos vorgelesen.

Aus, vorbei. Oder doch nicht? Auf der Buchmesse wird heute die Kampagne "Deutschland liest vor" von Doris Schröder-Köpf, der Frau des Bundeskanzlers, gestartet. Sie soll Menschen in ganz Deutschland zur Gründung von Vorlese-Initiativen animieren. Initiator der Kampagne ist die Hamburger Körberstiftung. In ihrem transatlantischen Ideenwettbewerb "USable" hatte die Stiftung die in den USA von Carmen Stürzel entdeckte Idee "Beginning with Books" ausgezeichnet. Die Sozialarbeiterin nahm das Preisgeld und baute in Berlin die Vorlese-Initiative "Lesewelt e.V." auf. In wenigen Jahren hat sie hunderte freiwillige Vorleser zwischen 14 und 84 Jahren gewonnen, die Kindern, denen niemand je vorgelesen hat, die Wunderwelt der Bücher erschließen.

Beim Vorlesen erfahren diese Kinder eine Zuwendung, die ihnen der schönste und größte Fernseher nie bieten kann. Der Fernseher hat keine Arme, streichelt einem nicht über den Kopf, beantwortet keine Fragen und hört nie zu. Der Vorleser kann ein besonderes Band zu seinem kleinen Zuhörer knüpfen. Idealerweise sollte das die Mutter oder der Vater tun, doch Zeitarmut und Sprachlosigkeit machen viele Eltern zu Vorlese-Versagern.

Damit die Kinder Lesen nicht nur als leidige (Schul)-Pflicht, sondern "als Vergnügen, als spannende Reise in eine eigene Welt" (Schröder-Köpf) kennen lernen, wirbt die Frau des Bundeskanzlers zusammen mit prominenten Unterstützern aus den Medien bei allen Lesern für das Vorlesen. (Informationen zur Kampagne sind erhältlich unter www.deutschland-liest-vor.de.)

Zwar wird man mit dieser Aktion die schlecht lesenden 15-Jährigen nicht mehr erreichen, aber bei den Jüngsten, den Kindern in den Kindergärten und Horten, ist das regelmäßige Vorlesen so unumgänglich wie folgenreich. Insbesondere in Zeiten, in denen die frühkindliche Förderung einmal mehr den Sparzwängen zum Opfer fällt, Bibliotheken geschlossen werden und Kindertagesstätten die Gebühren erhöhen, sind freiwillige Aktionen wie "Deutschland liest vor" ein Lichtblick. Freiwillig und ehrenamtlich darf freilich nicht zufällig und sporadisch heißen. Regelmäßiges Vorlesen muss für jedes Kind zur schönen Gewohnheit werden, dann braucht man sich um seine künftige Lesefreude - und seine Sprachentwicklung - keine Sorge zu machen.

CHRISTINE BRINCK

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